Ich bin an deiner Seite
ihren Fingern, die sich um einen hellblauen Stift geschlossen hatten, und sah zu, wie sie das Gebäude neu erschuf, es aussehen ließ, als würde es das Morgenlicht spiegeln, was es, wie Ian merkte, wirklich tat.
»Du bist eine so gute Beobachterin«, flüsterte er, weil er sie nicht ablenken wollte. »Du gibst mir das Gefühl, blind zu sein.«
Sie lächelte, erwiderte jedoch nichts, und ihre Finger färbten sich blau und weiß. Sie füllte das Papier mit dem Mausoleum und mit seinem Spiegelbild in dem reglosen Wasser. Ian hatte Hunderte von Fotos vom Tadsch Mahal gesehen, aber konnte sich nicht erinnern, dass eines davon so zauberhaft gewesen war wie Matties Bild.
»Ich glaube, Shah Jahan hätte das gut gefallen«, sagte er. »Und ich weiß, dass deine Mutter es geliebt hätte.«
»Papa?«
»Was, Schatz?«
»Gestern Abend, als du mir erzählt hast, was Mami in ihrem Brief geschrieben hat, dass sie wünschte, sie hätte mehr Leuten geholfen, da hast du gesagt, dass du das anders siehst, dass sie tatsächlich sehr vielen Menschen geholfen hat.«
»Das hat sie. Und zwar sehr viel mehr, als sie sich selbst zugestehen wollte.«
»Ich glaube, du hast recht. Und ich möchte ihr das sagen.«
Ian deutete auf den weißen Streifen unter ihrem Bild. »Dann mach das doch.«
Mattie nickte und dachte darüber nach, was sie schreiben sollte. Sie nahm den grünen Stift, mit dem sie die Zypressen gemalt hatte, und schrieb unter das Bild: »Du hast allen geholfen, Mami. Wir lieben dich.«
Ian küsste ihre Stirn und sagte: »Perfekt.«
»Papa?«
»Was denn, meine kleine Fragenstellerin?«
»Warum … warum fühle ich mich hier Mami so nah?«
Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Weißt du, Ru, ich bin um die ganze Welt gereist und habe jede Menge schöner Gebäude gesehen. Ich habe Moscheen und Tempel gesehen. Und Kirchen, die so groß waren wie ein ganzer Straßenblock. Aber das Tadsch Mahal ist das Einzige, was ich gesehen habe, das gebaut wurde, um die Liebe zu feiern, um auf ewig an die Liebe zu erinnern. Ich schätze, du fühlst dich hier deiner Mutter nah, weil Shah Jahan die Liebe verstanden hatte. Es war das Beste und Schönste in seinem Leben, genau wie es das in unserem ist. Und das Tadsch Mahal … spiegelt die Liebe, wie wir sie empfinden … und das lässt uns allen nahe sein, die uns etwas bedeuten.«
Sie schloss ihren Skizzenblock. »Ist es genauso schön, wenn man direkt davorsteht?«
»Es ist mindestens so schön. Du kannst sie von hier nicht sehen, aber Millionen von Halbedelsteinen bedecken die äußeren Wände. Sie bilden Blumen und Ranken und … ich glaube sogar Gedichte.«
»Ich will sie sehen. Und wo der Kaiser und seine Frau nebeneinanderliegen.«
Er steckte die Muschel wieder ein, nahm Matties Hand und stand auf. »Dann lass uns gehen.«
»Noch eine Sache, Papa.«
»Was?«
»Ich möchte mein Bild in einen Wunschbaum hängen, wo Mami es sehen kann. Aber nicht hier in der Nähe. Können wir einen guten Baum suchen? Vielleicht morgen?«
»Indien ist voller guter Bäume.«
Mattie lächelte und ging auf das Tadsch Mahal zu, auf eine Quelle der Schönheit, durch die sie ihre Mutter spüren konnte. Sie lief schneller, wollte berühren, was ihre Mutter berührt hatte, wollte sehen, was ihre Mutter gesehen hatte. Das Tadsch Mahal wurde größer, ein einziges Juwel aus einem unbekannten Stein, ein Traum einer sterbenden Frau, ein Anblick, der so erschütternd war, dass Mattie sich fragte, ob es wirklich existierte. Sie rief stumm nach ihrer Mutter und blickte nach oben zu der großen Kuppel.
Nachdem sie ihre Sandalen ausgezogen hatte, stieg Mattie die weißen Marmorstufen hinauf, die zum Mausoleum führten. Sie dachte an Shah Jahan, an Arjumand, an ihre Mutter und ihren Vater, daran, wie sehr es ihren Vater schmerzte, eine solche Liebe verloren zu haben. Sie drückte seine Hand und ließ sich von ihm hineinführen, in einen Ort, der ganz sicher Erinnerungen in ihm wecken würde.
Bitte, sieh auf uns herunter, Mami, dachte Mattie. Bitte, sieh jetzt auf uns herunter und lass Papa wissen, dass du da bist. Er vermisst dich so. Lass ihn einfach wissen, dass du da bist, ich glaube, dann wird es ihm ein bisschen besser gehen.
***
Ungefähr sechs Stunden später gingen Ian und Mattie zurück zu ihrem Hotel. Obwohl sie müde von dem aufregenden Tag waren, nahmen sie sich kein Taxi oder eine Rikscha, denn die Straßen waren vom Verkehr völlig verstopft. Zu Fuß, so schien es, kamen sie
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