Ich bin da noch mal hin
bisschen strecken!«, erklärte er.
Dann kam er gemächlich von seinem Meditationsplatz herunter, und wir eilten Christina und Isaac hinterher.
»Weit können sie noch nicht sein«, sagte ich mehr als einmal.
»Sind wir noch auf dem richtigen Weg?«, fragte Noah, als wir eine Straße überquerten, die mitten durch den Wald führte.
»Oh ja! Weiter geht’s!«, sagte ich strahlend.
Dabei hatte ich keine Ahnung, wo wir uns befanden.
Ich ließ mich von meiner Intuition durch den tiefen, dunklen Wald leiten und Noah folgte mir widerspruchslos. Ich wiegte ihn in dem Glauben, eine Camino-Veteranin wisse immer, wo sie hingehe. Gleichzeitig betete ich, dass der Pfad, der sich zwischen Wurzelgeflechten, an die ich mich zu erinnern meinte, dahinschlängelte, in Trabadelo wieder in die Zivilisation führen und nicht an einem unbewohnten Straßenabschnitt endenwürde. Christina (die Noah vor sich wähnte) war auf der Suche nach ihm vielleicht sogar schon, verzweifelt über sein Verschwinden, über Trabadelo hinaus gegangen. Ich fühlte mich verantwortlich für unsere missliche Lage. Doch das traf natürlich nicht zu. Wie Hans und ich es schon einmal 2001 erlebt hatten, waren nun Noah und ich im Bermudadreieck des Camino gefangen.
Als wir wieder auf eine Straße stießen, sahen wir Christina bei einem Garten voller Zwerge auf einer Bank sitzen. Sie rief gerade Isaac an, der die Straßen nach Noah absuchte. Genau in diesem Moment kämpfte Christina mit dem schrecklichen Gedanken, ihre beiden Söhne an das Bermudadreieck verloren zu haben. Isaac schlenderte auf uns zu und winkte seinem Bruder verlegen.
»Mensch, Noah! Wo warst du denn?«, schrie Christina und stürzte mit ausgebreiteten Armen auf uns zu.
»Hallo, Mama«, erwiderte Noah schulterzuckend, als sei gar nichts geschehen.
Das Zwergencafé hatte schon vor langer Zeit dichtgemacht, aber wir versammelten uns im nahen El Puente Peregrino zum Frühstück. Es war das Erste, was wir seit Stunden an Essen und Trinken zu uns nahmen, und schmeckte mir und Noah wie himmlisches Manna. Als wir uns auf der Talstraße auf den Weg nach O Cebreiro machten, traf gerade Matthias ein. Ich hoffte inständig, dass er sich nicht an Hans’ Beschreibung dieses Wegabschnitts in »Ich bin dann mal weg« erinnerte. Hans hatte mich 2001 unsanft aus der Bahn eines herannahenden Sattelschleppers gerissen. Ich war außer mir vor Wut über die rücksichtslosen LKW-Fahrer, die offenbar entschlossen waren, uns zu töten, bevor wir Galicien erreichten. Hans hat mir damals wahrscheinlich das Leben gerettet, aber gedankt habe ich es ihm kaum, denn er riss mir dabei fast den Kragen meines Barcelona-T-Shirts ab. Wir haben auch nicht, wie geplant, an den König von Spanien geschrieben, um seinen königlichen Schutz für die Pilger auf dieser gefährlichen Strecke zu erbitten. Doch jetzt ist das gar nicht mehr nötig: Eine neue Autobahn nach La Coruña nimmt den gesamten Autoverkehr auf und garantiert Pilgern auf der alten N 6 das Überleben. Wer weiß, vielleichtwar es doch »Ich bin dann mal weg«, das König Juan Carlos dazu gebracht hat, den Bau dieser lebensrettenden Autobahn anzuregen?
Unsere kleine Truppe traf genau um zwei Uhr nachmittags in Ruitelán ein. Ich ließ mich von Bobs Regel leiten und buchte mich in der großen weißen Herberge ein, während meine compañeros noch die zehn Kilometer nach O Cebreiro in Angriff nahmen. So viel Energie hatte ich nicht mehr. Also würde es noch einen Tag dauern, bis ich es endlich schaffte, León zu verlassen und den Fuß in die neue Provinz Lugo zu setzen.
Und jetzt, zum ersten Mal seit Santo Domingo, mache ich das, was Tausende anderer Pilger jeden Nachmittag machen. Ich lege mich aufs Bett und tue nichts. Nichts außer Betty und Dugalds Empfehlung zu folgen: der Musik zu lauschen.
Aber ich höre keine Musik. Was haben sie bloß damit gemeint?
Lugo
Ruitelán – Pontecampaña
Freitag, 9. Juli 2010
Ruitelán - Fonfría | 22,2 Kilometer
Samstag, 10. Juli 2010
Fonfría - Triacastela | 8,7 Kilometer
Sonntag, 11. Juli 2010 und Montag, 12. Juli 2010
Triacastela über Sarria - Portomarín | 46 Kilometer
Dienstag, 13. Juli 2010
Portomarín - Pontecampaña | 29 Kilometer
Freitag, 9. Juli 2010
Ich wandere 22,2 Kilometer von Ruitelán nach Fonfría
Beim Erwachen scheint es mir im Schlafsaal dunkler als beim Zubettgehen. Und wer singt da? Ich nehme meine Schlafmaske ab und merke, dass es gar nicht so dunkel ist. Wie viel Uhr ist es? Ich darf mich
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