Ich bin da noch mal hin
nicht bewegen. Ich darf keinen Laut von mir geben.
»Morgens muss Ruhe sein, bis die Musik verklingt!«, hatte unser hospitalero Carlos gestern Abend beim Essen verkündet.
Ich hatte meinen erbarmungslosen Handywecker ausgeschaltet und in Erwartung der frühmorgendlichen Melodien sogar ohne Ohrstöpsel geschlafen. Ein Blick in den Raum verrät mir zu meiner Erleichterung, dass auch die anderen drei Frauen noch da sind, gehorsam und still in ihre Schlafsäcke gemummelt. Endlich einmal eine Herberge ohne den typischen Morgenkrawall – Klingeltöne, Flip-Flops, die Richtung Dusche schlurfen, das störende Rascheln von Schlafsäcken und das aufdringliche Ratschen von Reißverschlüssen. Das einzige Geräusch kommt von dem CD-Player in der Küche jenseits der Tür.
»Ave Maria …«
Eine Frau singt Schuberts Lied. Ich liege still, bin aber aufmerksam, bis das klimpernde Klavier und die beruhigende Stimme mich wieder in den Schlaf lullen. Doch das lässt Carlos nicht zu.
»Nessun Dorma! Nessun Dorma!« (Keiner soll schlafen! Keiner soll schlafen!), gebietet der unverkennbare Luciano Pavarotti auf dem Weg zu einem Gipfel, dem Siegesversprechen.
»Vincero! Vincero! Vincero!« (Ich werde siegen! Ich werde siegen! Ich werde siegen!)
Als Pavarottis Siegeshymne verklungen ist, hebe ich meine Ohren aus dem Schlafsack, um den Worten zu lauschen, mit denen das bekannte Lied des Cirque du Soleil beschreibt, wie das Leben sein sollte.
»Alegría! I see a spark of life shining
Alegría! I hear a young minstrel sing
Alegría …
There is a love in me raging
Alegría! A joyous, magical feeling.«
(Alegría! Ich sehe einen Lebensfunken glitzern
Alegría! Ich höre einen jungen Barden singen
Alegría …
In mir bebt die Liebe
Alegría! Ein magisches Glücksgefühl.)
»Wir haben gestern Abend die Pilgersegnung in der Kirche verpasst«, erzähle ich Elli beim Frühstück. »Sie fand statt, als wir vor dem Abendessen im Garten geplaudert haben. Schade.«
Sie wirkt jetzt genauso geknickt, wie ich mich vor ein paar Minuten fühlte, als ich den Infozettel an der Tür entdeckt hatte. Doch rasch holt sie uns aus dem kleinen Tief heraus.
»¡No importa! (Macht nichts!) Wir sind schon gesegnet. Wir sind Pilger!«
»Ich habe gehört, dass der König und die Königin von Spanien und sogar der Papst am Jakobstag an der Messe in Santiago teilnehmen werden«, wirft Adi aus Indonesien ein, um zu betonen, wie gesegnet wir uns fühlen dürfen.
»Es ist ein heiliges Jahr«, sage ich. »Aber dass der Papst kommt, hätte sich doch herumsprechen müssen?«
»Vielleicht wird es aus Sicherheitsgründen geheim gehalten?«, spekuliert Adi.
Adi, Elli und ihre beiden Freunde verlassen Ruitelán allesamt vor 7 Uhr 30, ich hingegen brauche noch zehn Minuten, um Carlos nach der morgendlichen Musik zu fragen.
»Va a caer la del pulpo«, sagt er plötzlich.
»Wie bitte?«
»Va a caer la del pulpo«, wiederholt er.
»Es wird Oktopustinte regnen? Dann gehe ich besser, bevor es anfängt.«
Vorsichtig steige ich die steilen Treppen hinab auf die Straße. Hinter mir schwillt die Orchesterversion des Klavierstücks »The Promise« an, das Michael Nyman für den Film »Das Piano« geschrieben hat.
Das also haben Betty und Dugald gemeint, als sie über die Musik in Ruitelán sprachen.
Die ausgedörrte Landschaft des páramo mag hinter mir liegen, die größte Hitze vorbei sein, doch vom wolkenlosen Himmel fällt noch keine Oktopustinte. Die Kühle und die dicht bewaldeten Hügel des Valcarce-Tals sind nach den herausfordernden Landschaften zuvor eine wahre Gnade. Gelb blühende Nachtkerzen und Johanniskraut ragen über den Gartenzaun eines Hauses mit weißen Fensterläden im Dorf Las Herrerías, das aus einer Reihe dreistöckiger Gebäude zu beiden Seiten der Straße besteht. Grasmatten fallen zum Fluss hin ab, und vor den Pappeln stehen Eichen, laubwechselnde Bäume. Was für ein Segen! Habe ich endlich das gelobte Land des gemäßigten Klimas erreicht? Die alte Straße führt nach O Cebreiro, doch ich fühle mich hier fast so zu Hause wie im englischen Lake Distrikt und gar nicht wie auf dem Weg nach Galicien. Merkwürdig, es gibt tatsächlich eine uralte Verbindung zu meinem Heimatland. Einer Aussage von Papst Alexander III. aus dem Jahr 1178 zufolge gab es in Las Herrerías ein Hospitál Inglés, das wahrscheinlich für die geplante Pilgerreise von Heinrich II. erbaut wurde. Doch der englische König kam nie. Offenbar hatte er schon damals die
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