Ich bin da noch mal hin
Nur vier Pilger und ein Bruder der Marianisten haben sich um 7 Uhr 30 in der Klosterkapelle zum Morgengebet für die Pilger eingefunden. Moisés ist nicht erschienen. Sabine aus Deutschland und ein hochgewachsener junger Mann stehen zwischen den Kirchenbänken, während der Niederländer und ich von dem kleinen Bruder sogleich nach vorn bugsiert worden sind, um beim Gottesdienst zu assistieren. Ich bin noch müde und alles andere als begeistert, aber als Engländerin dazu verdonnert, die kleine Schar der Gläubigen in der Lingua franca durch das Ereignis zu führen. Unter meinen hastig übergeworfenen Kleidern trage ich noch meinen Pyjama, in meiner Hosentasche spüre ich die nasse Zahnbürste. In Erinnerung an die Handy-Geschichtevom Vorabend danke ich Gott, dass ich überhaupt angezogen bin. So trete ich ans Mikrofon, als der Bruder mir mit einem Kopfnicken bedeutet, die Predigt zu verlesen:
»Hören wir nun das Wort Gottes, der uns erklärt, wie wir uns auf dem Weg nach Santiago verhalten sollen, und spüren wir die Anwesenheit von Jesus, dessen Ruf wir gefolgt sind.«
Wie wir uns verhalten sollen? Jetzt wird’s ernst. Moisés hat keinen Ton davon gesagt, dass man einen Morgen lang Mitglied der Marianisten werden muss, nur weil man mal in diesem Refugium übernachtet. Ich halte mich an den Handzettel – ohne ihn würde ich mich niemals erdreisten, meinen Mitpilgern Verhaltensvorschriften zu machen, schon gar nicht im Pyjama. Unsere Anweisungen sind dem Markus-Evangelium entnommen, in dem die Geschichte des Bartimäus erzählt wird, die ich nun vorlese:
»Sie kamen nach Jericho, und als er von Jericho weiterzog mit seinen Jüngern und zahlreichem Volk, saß Bartimäus, ein blinder Bettler, am Weg. Als er hörte, es sei Jesus, der Nazarener, begann er zu schreien: ›Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!‹ Jesus blieb stehen und sagte: ›Ruft ihn her!‹ Und sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: ›Sei guten Mutes; steh auf, er ruft dich.‹ Da warf er seinen Mantel ab, sprang auf und ging zu Jesus hin. Und Jesus wandte sich an ihn und sprach: ›Was willst du, was soll ich dir tun?‹ Der Blinde sagte zu ihm: ›Rabbuni, ich möchte wieder sehen.‹ Da sagte Jesus zu ihm: ›Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.‹ Und sogleich sah er wieder und folgte ihm auf dem Weg. Dies ist die Geschichte des Herrn.«
Als ich an der Stelle »Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen« ankomme, muss ich ein paar Tränen wegblinzeln und hoffen, dass niemand die Rührung in meiner Stimme bemerkt. Was ist nur los mit mir? Ich kenne diese Geschichte aus meiner Schulzeit – damals glaubte ich noch an Wunder. Nun, als erwachsene (was immer das heißen mag) Wissenschaftlerin scheint es mir wahrscheinlicher, dass Bartimäus sich nur blind gestellt hat. Dennoch verstehe ich die Geschichte als Anregung, den Hilflosen Beistand zu leisten. Ich erinnere mich noch, wie gut mir die Aufmerksamkeit von Moisés und der diensteifrigen Kellnerin nach den Widrigkeiten des gestrigen Tages getan hat. Dass ichohne die entschlossene Hilfe des Rastplatzarbeiters gar nicht hier angekommen wäre. So sollten wir uns verhalten, so wie diese Menschen. Das war im Eröffnungsgebet mit der Liebe zu den Nächsten gemeint gewesen.
Der Mönch beschließt den Gottesdienst mit dem Vaterunser auf Latein und gibt uns noch einige aufrüttelnde Abschiedsworte mit auf den Weg: »Gestärkt durch dieses Gebet, brechen wir zu einer neuen Etappe auf unserem Weg nach Santiago auf. Wir folgen dem Motto all der Pilger, die uns vorangegangen sind: ¡Ultreya a suseya!«
»Vorwärts und aufwärts!«, heißt unser Wahlspruch. »Vorwärts« steht für das Durchhaltevermögen, das wir unterwegs brauchen werden, »aufwärts« für den spirituellen Aspekt unserer Reise. Dazu gehört es offenbar, anderen zu helfen. Kann ich dem gerecht werden? Bisher sah es eher so aus, als bräuchte ich alle verfügbare fremde Hilfe. Mir fällt W. H. Auden, einer der großen Dichter Englands ein, der einmal meinte: »Wir sind hier auf Erden, um anderen Gutes zu tun. Wozu die anderen hier sind, kann ich nicht sagen.« Eine geistreiche Spitze gegen Leute wie mich.
Wie kommt es, dass ich im Jahr 2001 diese Ziele – mich zu wandeln und anderen Menschen zu helfen – nicht mit nach Hause nahm und nach ihnen lebte? Sieben lange Wochen war ich auf dem Camino unterwegs, aber seine Lehren sind nicht hängen geblieben. So viele Pilger glaubten, dass der Camino an sich schon eine magische Wirkung
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