Ich bin da noch mal hin
Gegensatz zu meiner schlamm- und ölverschmierten Erscheinung –, begrüßt mich, führt mich ins Büro und stempelt mein credencial mit diesem einzigen sello des heutigen Tages: »Amigos del Camino de Santiago. Trinidad. Arre. Navarra.« Moisés, so heißt dieser hospitalero , ist ein pensionierter Lehrer, gehört dem Laienorden der Marianischen Bruderschaft an und tut während meines kurzen Aufenthalts hier in Trinidad sein Möglichstes, um sich den Titel Amigo zu verdienen.
Er führt mich durch den Garten, in dem ein Walnussbaum steht, und die Treppe hinauf in den Schlafsaal. Sein Angebot, meine Taschen zu tragen, schlage ich aus, obwohl ich kaum gehen kann; ich will nicht schon wieder hören, dass sie schwer sind. Auf den Betten lesen frisch geduschte Pilger in ihren Führern, andere packen bereits ihre Taschen, um am Morgen früh aufzubrechen. Der Raum ist nicht voll, aber Moisés geht an allen Betten vorbei und steckt mich in den Frauenschlafsaal, zu dem eine Tür am Ende der Bettreihen führt. Hier sind alle vier unteren Kojen mit über Schlafsäcken verstreuten Kleidungsstücken belegt. Ich kann also nur unter den vier leeren oberenBetten wählen. So schwach, wie ich mich fühle, weiß ich kaum, wie ich dort hinaufkommen soll. Trotzdem schaffe ich es, meinen Schlafsack auszurollen, noch bevor ich meine feuchten Klamotten abstreife. Ich hänge sie an das Metallgestänge, das verhindern soll, dass ich aus dem Bett falle, bei meinem Grad von Erschöpfung jedoch möglicherweise verhindert, dass ich heute Abend überhaupt ins Bett komme.
So schnell ich kann – also im Schneckentempo –, dusche ich, ziehe mich um und mache mich dann durch die Hauptstraße auf den Weg, um noch das menú del día del peregrino , das täglich wechselnde Pilgermenü, zu ergattern. Moisés hat mich vorgewarnt, dass nur bis 20 Uhr 30 serviert wird, ich muss mich also beeilen.
Um 20 Uhr 15 betrete ich das Lokal, wo zu meiner bitteren Enttäuschung die Kellnerin ungehalten auf ihre Armbanduhr blickt, als ich nach dem menú del día frage. Erst als ich mein niedergeschlagenstes Gesicht mache, wird sie weich, und ihre mürrische Miene ist wie ausgewechselt.
»Bitte sehr«, sagt sie lächelnd und reicht mir die Karte. »Wählen Sie, ich bin in zwei Minuten wieder da.«
Wir stehen immer noch mitten im Gastraum, und ich suche mir eilig einen Platz zwischen den leeren Tischreihen, während sie auch schon mit einer halben Flasche Rotwein der Region und einem Glas zurückkommt. Ich bin übertrieben dankbar für alles, was die diensteifrige Kellnerin anzubieten hat – für das Backhähnchen, den Riesenteller Spaghetti bolognese und den Flan-Pudding. Schließlich bin ich wirklich kurz vor dem Verhungern, denn seit dem labberigen Sandwich am Col d’Ibañeta vor sechs Stunden und zweiundvierzig Kilometern habe ich nichts mehr zu mir genommen. Warum ist diese Gaststube leer? Haben all die anderen Pilger schon gegessen oder essen sie woanders? Ich kann mir momentan keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen.
Als ich um 22 Uhr zurückkehre, sind, wie gewöhnlich um diese Zeit, die Lichter bereits gelöscht. Die vier Pilgerinnen, mit denen ich den Schlafraum teile, liegen schon in ihren unteren Kojen. Ich benutze mein Fahrradlicht als Taschenlampe und sehe, dass die Pilgerin unter mir all meine Kleider über dasGestänge auf mein Bett geworfen hat, damit sie nicht in ihren »Raum« hängen. Einen Augenblick lang stehe ich wie versteinert, erschüttert über diesen feindseligen Akt. Das ist nicht der Geist, der auf dem Camino herrschen sollte. Wer ist diese Frau? Wie sollen auf diese Weise meine Klamotten trocknen? Sie haben ja nicht ihr Bett berührt. Und überhaupt ist es nicht ihr Bett, sondern unseres. Ob sie überhaupt schon mal in Gemeinschaftsunterkünften geschlafen hat? Ich nehme die Kleidungsstücke von den Stangen und breite sie über meinen am Boden stehenden Packtaschen aus. Als ich schließlich ins Bett klettere, überlege ich, ob das wohl mein Stückchen Boden ist oder ihres.
Als hätte ich nicht schon genug Probleme – wo ist mein Handy geblieben? Ich stecke es nachts immer in das Fußteil meines Schlafsacks, aber wo ist es jetzt? Mir geht es nicht um den Geldwert – es hat beim Carphone Warehouse in Liverpool nur fünf Pfund gekostet –, sondern darum, Freunde und Angehörige daheim erreichen zu können. Da ich bisher keine Kontakte zu Pilgern geknüpft habe, könnte das Handy noch wichtig werden, falls meine Motivation
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