Ich bin da noch mal hin
nachlässt. Ich klettere die Leiter wieder hinunter und gehe den gleichen Weg zurück, den ich gekommen bin. Mit der Lampe suche ich den Boden im nächsten Schlafsaal, auf der Treppe und draußen im Garten ab. Dort stoße ich auf Moisés, der nicht etwa Unkraut jätet, sondern seine Runden dreht, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.
»Was suchst du denn, Anne?«, flüstert er.
»Mein Handy«, flüstere ich zurück. »Beim Essen hatte ich es noch, jetzt ist es weg. Vielleicht habe ich es auf dem Rückweg verloren.«
»¡Vamos! (Komm!) Wir suchen es«, sagt er und öffnet ohne Zögern die schwere Eichentür in der Klostermauer, um mit mir die Hauptstraße hinunterzugehen.
Dass ich nur eine Pyjamajacke und Boxershorts anhabe, scheint ihn nicht zu stören. Mich schon, sehr sogar, aber er war so schnell bei der Sache, dass ich mich nicht mehr umziehen konnte. Ich komme mir vor wie der Dorftrottel, als ich so halb nackt durch die spanische Nacht laufe, und kaschiere meine Verlegenheit, indem ich fieberhaft zu Boden starre. Wir findendas Handy nicht, aber immerhin hat Moisés’ Hilfsbereitschaft nach der unerfreulichen Kleider-Umschichtung im Schlafraum mein Vertrauen in die Menschheit wieder hergestellt. Auf Zehenspitzen gehe ich in mein Zimmer und leuchte noch ein letztes Mal den Boden ab. Erfolglos. Also werde ich einfach morgen in Pamplona ein neues Handy kaufen, während hoffentlich ein Fahrradschrauber meine Gangschaltung instand setzt.
Im Bett richte ich den Lichtstrahl auf die Wand, bevor ich die Lampe ausschalte, wobei ich darauf achte, nicht dorthin zu leuchten, wo ich die Augen der Pilgerin unter mir vermute. Was ist das, auf der leeren oberen Koje neben meiner? Mein Handy. Wie ist es da hingekommen? Ich greife über die Lücke zwischen den Betten, um es wieder an mich zu nehmen. Im Himmel, da bin ich mir sicher, kann es keine größere Freude geben als die eines Pilgers, der sein verlorenes Handy wiederfindet.
Mit wem habe ich heute gesprochen? Ich zähle mir auf: Alison und Ian in Saint-Jean beim Frühstück, vor sechzehn Stunden und einer Ewigkeit; mit dem Radfahrer aus Den Haag; dem Rastplatzarbeiter; Moisés und der diensteifrigen Kellnerin. Diese Menschen stellen meine gesamten Kontakte an meinem ersten Tag auf dem Camino im heiligen Jahr 2010 dar. Wird das ausreichen? Ist das genug Gesellschaft, um mich an einem normalen Tag bei der Stange zu halten? Alison und Ian in Saint-Jean haben mich inspiriert; der Rastplatzarbeiter war ausschlaggebend für meine sichere Ankunft an diesem wunderbaren Ort; Moisés hat mir geholfen wie ein Freund, und die diensteifrige Kellnerin hat mich wirklich rührend umsorgt. Inwieweit der Radfahrer aus Den Haag zu meinem Wohlergehen beigetragen hat, kann ich nicht sagen, aber ich werde mir noch etwas einfallen lassen. Denn das ist die Lehre, die ich aus den heutigen Widrigkeiten gezogen habe – in allem das Gute zu sehen. Irgendwo steckt es immer. Die ärgerliche Gangschaltungsgeschichte, der strömende Regen, der beißende Wind, der furchterregende Verkehr, die überraschende Einsamkeit und die Suche nach dem Handy sind anstrengend gewesen, aber jetzt bin ich zufrieden, wohlbehalten hier zu sein. Dieser herausfordernde Tag hat dazu geführt, dass ich die kleinsteFreundlichkeit, jeden Schluck Wasser oder Wein, jedes Bröckchen Essen zu schätzen weiß. Ich beschließe, mein Motto »Es könnte schlimmer sein« in das positivere »Such das Gute darin« zu ändern – dazu werde ich in den vor mir liegenden Tagen noch oft Gelegenheit haben.
Freitag, 11. Juni 2010
Ich radle 34,2 Kilometer von La Trinidad de Arre nach Cirauqui
»Willkommen, Brüder, zu dieser Messe auf unserer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Möge uns Gott auf unserem Weg begleiten und uns helfen, zu finden, was wir suchen.«
Bevor ich mir in Erinnerung rufen kann, was ich eigentlich suche, lädt uns der niederländische Pilger am Lesepult bereits zum gemeinsamen Gebet ein.
»Vater unser im Himmel, der du uns so reich beschenkst, und alles gibst, was wir sind und haben, lehre uns, mit dankbarem Herzen durchs Leben zu gehen und dich und unseren Nächsten zu lieben immerdar. Gelobt sei Jesus Christus, Amen.«
In den fünfzehn Minuten, die vergangen sind, seit ich aus dem Bett gesprungen und durch den Garten gesprintet bin, um rechtzeitig zum Morgengebet zu erscheinen, bin ich nicht wach genug geworden, um selbiges zu erfassen, aber ich nehme mir fest vor, später darüber nachzudenken.
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