Ich bin da noch mal hin
mir noch ein Glas zu holen, bevor alle zum Tresen stürzen. Doch da bleibe ich wie angenagelt stehen. Stevie G tänzelt wie die Zuckerfee vor dem Amerikaner Clint Dempsey herum. Dempsey schießt. Falls man das überhaupt einen »Schuss« nennen kann – es sieht mehr wie ein freundlicher Rückpass zu unserem Torwart Robert Green aus. Der Ball ist so langsam,dass er zwei kleine Hüpfer macht, bevor er Green erreicht. Doch das täuscht, seine Wirkung ist verheerend. Green geht in die Knie, um den Ball sicher zu erwischen, aber er springt ihm aus der rechten Hand Richtung Torlinie. Vergebens hechtet Green hinterher. Tor.
»Herrje, tut mir leid«, entschuldigt sich der Amerikaner hinter mir, als hätte er einen Fehler gemacht. »Was für ein lahmes Tor.«
»Tor ist Tor«, erwidere ich, zu geschockt, um mehr als eine Binsenweisheit zustande zu bringen.
Für die zweite Hälfte flüchte ich vor dem Zigarettenqualm in das nicht ganz so überfüllte Camel. Kaum habe ich mich mit meinem vino tinto niedergelassen, fangen drei Männer am Nebentisch an zu rauchen. Englands erbärmliche Vorstellung wird von Minute zu Minute schlechter. Hat Fabio Capello, unser Trainer, in der Halbzeit etwa Zigaretten ausgegeben? An diesem jämmerlichen Spiel ist vor allem seine Strategie schuld, mehr auf Spielerfahrung als auf Jugend zu setzen. Bei Capellos Faible für Rentner und angesichts der mangelnden Torchancen würde es mich nicht wundern, wenn er gleich unser Maskottchen David Beckham aus seinem sündhaft teuren Anzug holen und aufs Feld schicken würde.
Am Ende verlieren wir eins zu eins gegen ein Land, dessen Nationalsport Baseball ist. Habe ich das verdient? Mein langer Tag endet so kläglich, wie er begonnen hat. Es kann nur einen Engländer geben, der sich in diesem Augenblick so schlecht fühlt wie ich – Robert Green. Wie gern würde ich ihm jetzt tröstend sagen, dass nicht nur er mit dem quälenden Gedanken zu Bett geht, einen Fehler gemacht zu haben. Robert Green wünscht sich bestimmt, diesen Tag noch einmal ganz von vorn beginnen zu können. Ich selbst würde die Uhr gern noch viel weiter zurückdrehen.
War es heute Morgen in Cirauqui, dass mir dieser Gedanke erstmals gekommen ist? Ich wachte um vier Uhr in der Frühe auf und lauschte dem ruhigen Atmen der schlafenden Pilger und den zwei Kirchturmuhren, die meine Müdigkeit in Viertelstundenhäppchen einteilten. Als dann die Glocken sechs Uhr schlugen, sprangen alle so rasch in ihre Kleider, dass ich – dieEinzige, die schon wach gewesen war – als Letzte zum Frühstück kam. Ich saß neben Barbara, die mich fragte, ob es mir Spaß mache, auf dem Camino zu radeln.
»Hm«, sagte ich, »ich weiß nicht so recht, vielleicht war das Wandern doch besser.«
»Damals, als du Hape Kerkeling getroffen hast, oder?«
»Ja, genau. Tut mir leid, Barbara, ich war mir gestern Abend nicht sicher, ob ich das erwähnen soll.«
»Ich wusste es. Du bist Anne, nicht wahr?«
»Ja. Wann bist du darauf gekommen?«
»Nach unserem Gespräch begann ich mich zu fragen: Ist sie’s, oder ist sie’s nicht? Sie ist klein, Engländerin und heißt Anne. Und du bist sehr nett, er schreibt so freundlich über dich.«
Aber die Nette ist eigentlich Barbara. Als ich ihr die Geschichte mit meinen Autobahnfotos und Moniques Orchideen erzählte, tröstete sie mich sogleich.
»Ich bin meistens so in Gedanken versunken, dass mir Blumen gar nicht auffallen.«
Barbara, ihre Freundin Brigitte und die drei Frauen aus Marseille winkten zum Abschied und brachen zur »unbedingt sehenswerten« Römerstraße nach Estella auf. »Unbedingt sehenswert« gilt für Wanderer. Für Radfahrer heißt es »unbedingt vermeiden«.
»Nein, nein, Sie können unmöglich die Römerstraße nehmen«, warnte mich Oliver, der junge hospitalero , als ich schließlich mit meinen drei Taschen aus der Herberge trat. »Zu schlammig, zu steinig. Dafür braucht man viel dickere Reifen.«
»Werde ich später auf den richtigen Camino zurückkommen?«
»Nein, der Weg ist zu schwer passierbar. Sie müssen sich an die Straße halten.«
»Die ganze Strecke bis nach Santiago de Compostela? Immer nur auf der Straße?«
»Ja. Mit so einem Fahrrad geht es nicht anders.«
»Aber ich erinnere mich, dass vor neun Jahren jede Menge Radfahrer auf der Strecke unterwegs waren. Auf dem richtigen Camino.«
» Si , aber die hatten Mountainbikes und viel Erfahrung.«
Er hob das Rad ein paar Stufen hinunter. Nein, bitte, sag es nicht, bitte! Tu es
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