Ich bin da noch mal hin
Original hinter dem Altar. Jesus winkt uns mit einer Hand verhalten zu und umklammert mit der anderen eine Art Handtasche. Da hat er wohl seine Weihnachtsgeschenke drin – Gold, Weihrauch und Myrrhe. Ansonsten besaß er meines Wissens doch nichts.
Jetzt tut es mir leid, dass ich mich über die Straße geärgert habe, sie bringt uns nämlich ins ungefähr fünf Kilometer entfernte Puente la Reina. Dort wollen wir uns in der Herberge unseren sello holen, einen purpurfarbenen Stempel. Er stellt eine Muschel dar, die den Gekreuzigten vor einer Brücke einfasst. Das Bild bezieht sich auf die einzigartige deutsche Holzschnitzarbeit aus dem zwölften Jahrhundert in der Iglesia del Crucifijo (Kreuzkirche) und die sechsbögige mittelalterliche Brücke über den Fluss Arga. Ich kämpfe gegen das Verlangen an, hier eine Pause einzulegen und das schöne Städtchen zu besichtigen, das ich nicht erst 2001 lieben gelernt habe, sondern bereits bei einem Besuch im Jahr 1995. Ich hatte damals mit meiner Freundin Helen den Bus von Pamplona aus genommen. Wir wollten eine Woche lang dem Camino folgen, bevor wir uns in die Berge schlugen. Helen war damals felsenfest davon überzeugt, der hospitalero würde auf den ersten Blick erkennen, dass wir mit dem Bus gekommen waren, und uns nicht aufnehmen.
»Woher soll er denn das wissen?«, fragte ich sie.
»Weil wir seit Pamplona keinen einzigen Stempel mehr haben«, meinte sie kläglich.
»Na und?«, antwortete ich schnippisch. »Wir sagen einfach, wir haben keine gesammelt. Wenn er nicht an der Bushaltestelle war und uns hat aussteigen sehen, dann wird er denken, dass wir gewandert sind.«
»Bestimmt nicht. Aber er fragt ja schließlich dich, du bist diejenige, die hier Spanisch spricht.«
So musste ich also unsere beiden credenciales zum hospitalero bringen, während sich Helen irgendwo draußen versteckte. Der Mann sah auf die leeren Seiten, dann auf mich und spielte mit dem hölzernen Stempel in seiner Hand.
»Sind Sie hierher gewandert?«, fragte er und sah mich durchdringend an.
»Wir sind in Roncesvalles losgegangen«, antwortete ich möglichst unbestimmt.
Da knallte er seinen Stempel in unsere credenciales , und wir verbrachten die Nacht in der Herberge von Puente la Reina.
Doch diesmal halte ich mich nicht auf, Ben und ich erliegen der Versuchung des Radfahrers, jeden Tag so weit wie möglich zu kommen. Wir lassen die deutsche Holzschnitzerei ebenso links liegen wie die mittelalterliche Bogenbrücke, auf die wir nur einen kurzen Blick werfen, als wir über die moderne Version radeln. Die Hauptstraße von Puente la Reina wird von Lozano als »eine der markantesten und schönsten Ortsstraßen des gesamten Pilgerpfads« bezeichnet. Auf der Umfahrung, die wir nehmen, sehe ich diesmal allerdings nichts davon. Wir treten bis Mañeru kräftig in die Pedale, was das heiße Pochen in meinem Knie verstärkt. Der Schmerz und der hastige Aufbruch aus Puente la Reina stimmen mich plötzlich traurig. Tränen rollen mir übers Gesicht und benetzen meine Brille. Es dauert ein Weilchen, bis ich diesen kleinen Anfall von Nostalgie überwunden habe.
Wir radeln flott durch hügelige Weinfelder Richtung Estella. Doch irgendwann muss ich gestehen: »Ben, ich kann nicht mehr lange fahren, mein Knie!«
»Klar«, sagt er mitfühlend. »Du solltest weniger Strecke machen und richtige Ruhetage einplanen. Ich reise immer mit wenig Gepäck und nehme entzündungshemmende Mittel ein. Hast du so etwas dabei?«
»Nein. Das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen«, antworte ich und füge es in Gedanken meiner Liste ungeahnter Umstände hinzu.
Da ich hinter Ben fahre, kann ich sehen, dass er sich wirklich daran hält. Die alten Fahrradtaschen hinter seiner großen, schlanken Gestalt, die scheinbar mühelos auf dem Ledersattelseines traditionellen, mit einem Rennlenker versehenen Tourenrads sitzt, sehen ziemlich leer aus. Er ist dreiundsiebzig Jahre alt und hat viel Erfahrung. Warum musste ich bloß so viel Gepäck mitschleppen? Da hätte ich genauso gut zwei Tage lang Kniebeugen mit Hanteln machen können. Wenn ich Ben einholen könnte, dann würde ich ihn jetzt fragen, wie viele Umdrehungen pro Kilometer mein Knie mitmachen muss. Ben wüsste das sicher. Er ist pensionierter Physiker und arbeitete früher an Steuerungssystemen für die Abwehr von Atomraketen.
Der prächtige Anblick von Cirauqui hoch oben auf einem Hügel veranlasst uns zu einer kleinen Verschnaufpause. Wir machen einen Abstecher nach
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