Ich bin da noch mal hin
erklärt ihr, dass Jesus die Welt erretten wird. Und hier drüben predigt Jesus im Tempel, da ist er erst zwölf. Als Erwachsener vollbrachte er jede Menge Wunder, heilte Kranke, verwandelte Wasser in Wein und lehrte uns, wie man ein gottgefälliges Leben führt.«
Nachdem ich die pädagogischen Möglichkeiten des retablo ausgeschöpft hatte, stolz, es zu dem Zweck benutzt zu haben,zu dem Raphael Mengs es geschaffen hatte, nämlich zur Unterrichtung von Gottes unwissenden Schäfchen, führte ich Madison hinüber in die Kreuzigungskapelle aus dem 16. Jahrhundert. Wir betrachteten die Gestalt des gemarterten Jesus, der am Kreuz stirbt, und ich führte meine kleine Lehrstunde für die verblüffte Madison zu Ende.
»Jesus war erst dreiunddreißig Jahre alt, als sich das gemeine Volk in einem Augenblick der Massenhysterie gegen ihn wandte und die Römer dazu brachte, ihn zu kreuzigen. Er starb am Karfreitag am Kreuz. Hier ist wieder seine Mutter Maria, und das ist einer seiner Jünger, Johannes, sie trauern. Am Samstagmorgen nahmen seine Freunde seinen Leichnam vom Kreuz und legten ihn in eine nahe Grabstätte. Siehst du das Relief unter dem Kreuz? Das ist die Auferstehung. Jesus erstand einen Tag später, am Ostersonntag, von den Toten auf und verließ das Grab. Nach der Auferstehung besuchte er seine Jünger ein paar Mal, um schließlich in den Himmel aufzufahren und in Ewigkeit bei Gott zu leben.«
»Junge, Junge! Das ist ja unglaublich«, sagte Madison.
»Ich weiß, und das ist noch nicht alles – als Jesus am Kreuz starb, nahm er die Sünden von der Welt. Wenn wir an ihn glauben, wird Gott uns vergeben und uns nach unserem Tod für immer im Himmel leben lassen. Wenn nicht, kommen wir in die Hölle. Das habe ich, ehrlich gesagt, nie verstanden.«
»Was?«, wollte Madison wissen.
»Wie Jesus durch seinen Kreuzestod die Sünden von uns genommen hat. Wie soll das gehen?«, antwortete ich, während wir uns zu den übrigen Kunstschätzen der Kirche weiterbewegten.
Als Madison und ich damals die Kirche verließen, waren wir vielleicht nicht in Liebe zu Christus entbrannt, aber doch zumindest beeindruckt von seinen Bemühungen um uns. Auf jeden Fall hatten wir uns das christliche Willkommen verdient, das der Tag später, in der Einsiedelei San Nicolás, für uns bereithielt. Heute noch muss ich an Madison denken, wenn ich die »Virgen de las Cerezas« (Unsere Liebe Frau von den Kirschen), ein Gemälde des flämischen Malers Pieter Coecke van Aelst, ansehe. Eine sehr bleiche Maria hält das Jesuskind, das verspieltam Schal seiner Mutter zieht und offenbar auf eine der Kirschen zu seinen Füßen hofft. Ob Madison jetzt wohl die Antwort wüsste, wenn ich sie fragen würde, wer die beiden, die gleich diese Kirschen essen werden, sind?
Ich trete wieder aus der Vergangenheit heraus in den Sonnenschein der Gegenwart, um zum zweiten Mal in meinem Leben nach San Nicolás zu wandern. Arnold von Harff, der deutsche Ritter und Pilger aus dem 15. Jahrhundert, beschrieb Castrojeriz als »eine sehr lange, ausgedehnte Stadt mit einer großen Burg auf einem Hügel. Pilger nennen es ›die lange Stadt‹.« Die schmale Hauptstraße ist tatsächlich lang, aber ein normaler Pilger ist in zwanzig Minuten am anderen Ende. Ich brauche eine ganze Stunde, weil ich der Versuchung nicht widerstehen kann, noch zweimal anzuhalten. Einmal bei der Herberge, wo ich mir einen sello hole und mit dem jungen hospitalero plaudere, der mein credencial stempelt. Mir fällt der Sportteil auf seinem Schreibtisch auf.
»Schauen Sie sich heute Abend Spanien gegen Chile an?«, frage ich.
»¡Claro! Ich kann es kaum erwarten.«
»Ich werde in San Nicolás sein, da werde ich es wohl nicht sehen können.«
»Nein, aber Sie könnten nach Itero gehen und um vier Uhr Brasilien gegen Portugal anschauen.«
»Dann verpasse ich aber das Fußwaschritual vor dem Abendessen.«
»Sie werden sich entscheiden müssen«, sagt er.
»Wo sehen Sie sich heute das Spanien-Spiel an?«
»In der Bar«, sagt er mit einer Kopfbewegung zur anderen Straßenseite.
»Aber Sie sind doch der hospitalero «, meine ich. »Müssen Sie nicht um zehn die Herberge abschließen?«
»Nicht heute Abend.«
»Aber was ist, wenn es Verlängerung oder Elfmeterschießen gibt?«
»Ich schließe ab, wenn es vorbei ist. Ich bin der hospitalero «, entgegnet er.
Ich finde das phantastisch. Zu von Harffs Zeiten, da bin ich mir sicher, haben die Herbergen bei festlichen Anlässen auch nicht um zehn
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