Ich bin da noch mal hin
geschlossen und feiernde Pilger ausgesperrt. Wir studieren die Zeitung, vertiefen uns in die WM-Gruppentabelle und diskutieren die Chancen der Mannschaften, als seien wir Nationaltrainer. Keiner von uns erwähnt die Möglichkeit, dass Spanien heute Abend gegen Chile verlieren könnte und damit nicht in die Finalrunde käme. In jeder Bar und an jedem Balkon Spaniens hängt die rot-gelb gestreifte Fahne, verziert mit einem einzigen Wort: »Podemos« (Wir schaffen es). Ich neige mehr zu dem Gedanken »No podemos« (Wir schaffen es nicht). Die Niederlage gegen die Schweiz und der Zwei-zu-null-Sieg über das kleine Honduras sprechen wohl kaum für einen Weltmeister Spanien, oder?
Nach weiteren fünfzig Metern auf der Straße betrete ich den gewaltigen Innenraum der Kirche San Juan – so frustriert über meine Unfähigkeit, an einem Baudenkmal vorbeizukommen, dass ich mich zwinge, mir nur ein einziges Gemälde anzusehen: Die »Piedad« von Bronzino. Der totenblasse, muskulöse Leichnam Jesu liegt im Schoß seiner trauernden Mutter. Sie kann ihren Sohn nicht mehr aufrecht stützen – der Jünger Johannes und Maria Magdalena müssen ihr helfen. Die blutigen Male an seinen Füßen und Händen sind unglaublich klein, so als hätte das Mädchen mit dem Tuch hinter Maria Magdalena ihn bereits gewaschen, und als habe Jesus kein Blut mehr im Körper. Abgesehen von der verzweifelten heiligen Anne wirken die übrigen Anwesenden höchstens etwas verwirrt oder sogar gleichgültig. Mir ist Jesus und sein Schicksal nicht egal, und ob ich daran glaube, dass er Gottes Sohn ist, spielt dafür keine Rolle. Ich erinnere mich gut daran, wie mir der Glaube an seine Wunderkraft mit vierzehn abhanden kam. Damals war mein Großvater schwer krank, er hatte eine Staublunge und atmete durch einen Schlauch Sauerstoff aus einer Druckflasche neben seinem Bett, das im Wohnzimmer aufgestellt worden war. Ich kniete jeden Abend in einem unbeobachteten Moment neben meinem Stockbett nieder und betete, immer zehn an meinen Fingern abzählend, zu Jesus.
»Lieber Jesus. Wenn ich hundert Mal bitte sage, wirst du dann bitte meinen Opa gesund machen? Bitte, Jesus, lässt du bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte meinen Großvater leben? Ich will nicht, dass er stirbt. Biiiiiittttte! Danke, Amen.« Mein Großvater starb am Ende der gleichen Woche im Alter von nur vierundsechzig Jahren. Jedes Mal, wenn ich eine Kirche in Europa besuche und Jesus sehe, muss ich daran denken. Wirklich jedes Mal.
Schließlich erreiche ich das Ende der Hauptstraße, zwei Stunden nach meinem Eintreffen in Castrojeriz. Die römischen, westgotischen und mittelalterlichen Überreste der Burg schichten sich auf dem Hügel am Ortsrand als ungeordneter Haufen umeinander. Eher würde ich die faulige Nektarine essen, die Victorino mir heute Morgen geschenkt hat, als diesen Hügel zu erklimmen. Aber ich habe Glück, die gelben Pfeile am Boden führen mich über eine Straße und hinaus in die Ebene. Die Gunst des Schicksals ist von kurzer Dauer, denn etwa einen Kilometer weiter erwartet mich der nächste steile, laibförmige Kalksteinhügel, die Cuesta de Mostelares. Als ich später am Abend meinen Lozano konsultiere, stelle ich fest, dass ich es hätte wissen können: »Danach geht man weiter geradeaus bis zum Fuß der Hochebene. Dort beginnt der steile Anstieg den Hang von Mostelares hinauf. Man erreicht bald das Plateau der schmalen Hochebene, die die Wasserscheide zwischen dem Talbecken des Odrilla und dem Pisuerga-Becken markiert.« Was hat sich Lozano dabei gedacht? Eine schmale Hochebene? Ich stimme eher Domenico Laffi zu, der auf seiner Pilgerreise 1673 schrieb: »…gehen wir über eine große Brücke und steigen auf einen hohen Berg.«
Die große Brücke steht heute nicht mehr, der hohe Berg sehr wohl. Ich überquere die kleine moderne Brücke über den Fluss Odrilla und begebe mich auf den Pfad, der sich im Zickzackkurs auf die linke obere Ecke von Laffis hohem Berg zu zieht. Der Hügel ist nicht besonders hoch, aber zweihundert Höhenmeter auf so kurzer Strecke sind anstrengend, und ich bleibe häufig stehen, um über das Tal zurück nach Castrojeriz zu blicken. Aus den flachen Gerstenfeldern unter mir ragen stellenweise geheimnisvolle Hügel, die möglicherweise aus den Millionen vonSteinen bestehen, die die ersten Bauern, die auf diesem kargen Boden etwas anzupflanzen versuchten, von der Erde gesammelt haben. Ich steige weiter, manchmal
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