Ich bin dann mal alt
eigene Leben, für ein Gespräch mit Kindern und Enkeln, mit Nachbarn und Freunden, fürs Engagement in Vereinen oder Institutionen, zum Lesen oder Musikhören. Sie müssen nur aufpassen, dass sie dabei nicht wieder in die früheren Verhaltensmuster zurückfallen und sich selbst unter Erfolgsdruck setzen. Auch die ruhige, gelassene Auseinandersetzung mit der Natur, mit der Schöpfung verhindert, dass der Mensch bei seinen Aufgaben wieder in alte Zwänge und übertriebene Ziele hineingerät.
Im Alter kann man sich in aller Ruhe aussuchen, wem man die reichlich vorhandene Zeit »schenkt« – sich selbst oder anderen.
Leider verkennen viele diese Chance. Sie setzen sich von früh bis spät vor den Fernseher und lassen eine Sendung nach der anderen über sich ergehen – so vernichten sie das Luxusgut Zeit.
»Einfach schauen« ist wie eine Meditation
Überall in der Welt gibt es Völker mit besonderen Veranlagungen, die sie unverwechselbar machen: Indianer können in der Wildnis Spuren lesen, Amerikaner sind in der Lage, mit Kaugummi im Mund zu sprechen, nepalesische Scherpas schleppen scheinbar mühelos zentnerschwere Lasten auf die höchsten Berge hinauf, und auf einer fernen Insel leben Eingeborene, die auf Stangen im Meer hocken und mit dünnen Speeren Fische aufspießen.
Auch in Franken hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine Charaktereigenschaft entwickelt, die den Menschen prägt: Die Franken schauen nämlich gerne einfach vor sich hin. Sie selbst nennen es: »A weng bleed schaua!« Mag sein, dass diese Form des Schauens auch in anderen Volksgruppen anzutreffen ist, aber zwischen Nürnberg und Würzburg, zwischen Donau und Main ist sie besonders stark verbreitet.
»Einfach schauen« ist ein völlig entspannter Zustand, bei dem man mit offenen Augen das Leben langsam an sich vorbeiziehen lässt. Da wird nicht ein bestimmter Punkt scharf fixiert, sondern man schaut einfach von innen nach außen. Es ist gewissermaßen die fränkische Variante des Meditierens, wie man es sonst nur von indischen Yogis kennt – man muss sich nicht einmal in den komplizierten Schneidersitz niederhocken, bei dem einem schon nach einer Viertelstunde alle
Knochen wehtun und man das Gefühl hat, dass einem alle Gelenke festgeschraubt sind, sodass ein Aufstehen ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich ist. »Einfach schauen« kannst du ohne jede Anstrengung auf einer Bank hinterm Haus oder auf einem Stuhl im Straßencafé, wo der ganze menschliche Zoo an dir vorüberzieht: Männer mit Glatze und dickem Bauch, junge Mädchen mit Schlüsselanhängern in der Nase, ein Dackel, der sein Spritzerchen ans Hosenbein eines Mannes macht, während dieser gerade auf den Bus wartet. »Einfach schauen« kostet nichts und ist die beste Medizin gegen Stress, gegen zu hohen Blutdruck und gegen zu viel Cholesterin.
Vergessene Wege wiederfinden
Es gab in meinem Leben immer wieder auch gute Zeiten. An vieles kann ich mich nicht genau erinnern, weil der Kopf nicht mehr so ganz mitmacht. An Enttäuschungen erinnere ich mich nicht so gerne, lieber an die schönen Zeiten.
Lindenwirtin Josefine Wagner
Jeder Mensch hat in seinem langen Leben Wichtiges, Sinnvolles erlernt – und vergessen. In den Ereignissen seines Lebens sind viele Eindrücke wieder verschüttet worden – gute wie schlechte. Im Alter kann sich der Mensch diese vergessenen Wege wieder in Erinnerung rufen, indem er darüber nachdenkt, was ihm früher Kraft gegeben hat oder was ihm schlecht bekommen ist. Es ist eine Rückschau auf das eigene Leben – als Kind, als Heranwachsender, in der Schule, später im Beruf und in der Familie. Erfolge und Niederlagen tauchen auf, harmonische Erlebnisse und Abstoßendes. Dieser Blick auf die Vergangenheit macht dir bewusst, dass du in den Mühen des Lebens vieles vergessen hast, was dir gutgetan hat. Bei manchen Erinnerungen fragst du dich, warum du eigentlich nie versucht hast, diese wohltuenden Erfahrungen bewusst wieder ins Leben hereinzunehmen und dich darüber zu freuen.
Viele alte Menschen neigen dazu, nur die negativen Bruchstücke ihres Lebens zu betrachten: Niederlagen, Katastrophen, Todesfälle. Aber das Wiederfinden der vergessenen Wege ist viel umfassender als die einseitige Erinnerung an Unglücke; denn es schließt neben den Enttäuschungen auch die glücklichen Stunden ein, Freude und Harmonie. Dabei ist es weniger wichtig, dass man sich diese Eindrücke bloß für ein paar Momente in die Erinnerung ruft, sondern auf Spurensuche geht, um
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