Ich bin dann mal alt
man nicht alles an sich reißt, sondern auch lernt zu verzichten – und zu teilen. Wer dazu nicht bereit ist und sich nur Vorteile verschaffen will, zerstört die Beziehung und letztlich sich selbst. Denn Egoisten handeln nach dem Grundsatz, dass sie nur ihren eigenen Bedürfnissen folgen – ohne Rücksicht auf Grenzen. Ideal ist es deshalb, wenn man seine eigenen Wünsche auch mit der Bereitschaft zum Verzicht verbinden kann. Zum Beispiel erleben wir beim Fasten durch den Verzicht aufs Essen einen Gewinn an Freude für die Seele.
Viele Menschen sind nicht in der Lage, die rücksichtslosen Forderungen zu erfüllen, die aus überzogenem Wachstumsdenken an sie herangetragen werden – dann werden sie von unserer Hochleistungsgesellschaft als Störfaktoren abgestempelt, ausgegrenzt, ignoriert. Das beginnt schon im Kindergarten, setzt sich fort in der Schule, am Arbeitsplatz – und führt dazu, dass Menschen, auch wenn sie in bestimmten Bereichen durchaus noch leistungsfähig wären, aus dem Arbeitsprozess ausgegliedert werden. Ältere Mitarbeiter, vor allem weniger qualifizierte, haben heute fast keine Chance mehr, einen Arbeitsplatz zu finden. Kranke, Schwache, Alte, auch Behinderte, die den unmenschlichen Anforderungen nicht entsprechen, werden ausgemustert – mit dieser rücksichtslosen Entwicklung stoßen wir an die Grenzen menschlicher Würde. Wenn der Wert eines Menschen einer
grenzenlosen Hybris geopfert wird, zerstören wir all unsere Beziehungen – und damit das Leben selbst. Es wäre aber falsch, Wachstum, Entwicklung und Erfolg nur negativ zu bewerten. Wachstum im körperlichen und psychischen, im geistigen und auch im spirituellen Bereich gehört zum Leben. Wichtig aber ist die Erkenntnis, dass es gesundes Wachstum nur innerhalb sinnvoller Grenzen gibt.
Im Alter errichten viele Menschen ganz bewusst Grenzen. Sie schotten sich regelrecht ab – aus Angst und Misstrauen gegenüber Eindringlingen. »Die sollen mir meine Ruhe lassen«, ist dann von ihnen oft zu hören. Dass sie damit aber auch Beziehungen verhindern, die ihr Leben dringend bräuchte, ist ihnen nicht bewusst. Sie wollen sich niemandem öffnen, verstecken ihre Gefühle – und führen sich damit selbst in Einsamkeit und Isolation.
Der Erzengel Gabriel
Nicht nur Menschen missachten Grenzen. Auch wenn Tiere machen, was sie wollen, gibt es Ärger. Ausgangspunkt für so einen Fall war die Werkstatt eines Oberammergauer Künstlers. Er hatte eine wunderbare Holzfigur geschnitzt: den Erzengel Gabriel, ganz naturgetreu, 1,27 Meter hoch, mit weit ausgebreiteten Flügeln, Spannweite 85 Zentimeter – ein echtes Meisterstück. Weil aber Künstler nicht nur von der Luft leben, sondern vor allem vom Verkauf ihrer Werke, stellte der Künstler seinen Erzengel Gabriel tagsüber immer vor die Werkstatt, um bei vorbeigehenden Passanten einen Kaufwunsch zu wecken. Leider wurden dabei auch Bedürfnisse ganz anderer Art angeregt: Hunde beschnüffelten nämlich den Erzengel Gabriel mit allergrößtem Interesse – und setzten
dann ihren Spritzer punktgenau zwischen Knöchel und Knie des hölzernen Geistwesens. Wie viele Markierungen der Oberammergauer Holzengel über sich ergehen lassen musste, ist nicht bekannt – es könnten Hunderte gewesen sein, bis eines Tages ein Tourist das Kunstwerk an der Straße entdeckte und kaufte. »Der Engel«, sagte er zu seiner Gattin, »passt in unserem Wohnzimmer genau in die Ecke zwischen dem Gummibaum und dem Bauernschrank.«
Seitdem steht der Erzengel Gabriel im Wohnzimmer des Kunstliebhabers und wird von Besuchern stets bewundert. Beim neuen Besitzer allerdings hält sich die Freude in Grenzen. Wenn nämlich Gäste kommen, die ihren Hund mitbringen, setzt sich fort, was an der Straße in Oberammergau begonnen hatte: Ob Dackel oder Terrier, ob Mops oder Bernhardiner – alle schnüffeln sie an der Holzfigur und setzen dann ihre Duftmarke ab. Dem kunstsinnigen Besitzer brechen diese animalischen Grenzüberschreitungen fast das Herz, aber den Trieben der Natur sind Hunde eben noch stärker ausgeliefert als wir Menschen.
Zweckfrei leben, aber ohne Gleichgültigkeit
Am Vorabend ihres 100. Geburtstags wurde für Josefine Wagner in der Klosterkirche ein Gottesdienst gefeiert. Als man sie dazu abholen wollte, war sie nicht da. Alle warteten vor dem Wirtshaus – und dann kam sie, fein angezogen und im Pelzmantel, aus dem Hühnerstall.
»Ich hab die Hendln eingesperrt und das Tor zugemacht, sonst kommt der Fuchs und frisst
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