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Ich bin dann mal alt

Ich bin dann mal alt

Titel: Ich bin dann mal alt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Pausch , Gert Boehm
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sie. Morgen ist auch noch ein Tag.«
    Lindenwirtin Josefine Wagner
    Es ist ein Kennzeichen unserer Zeit, dass unser Leben total »verzweckt« wird. Alles, was wir denken und tun, muss einen Zweck erfüllen. Schon kleine Kinder werden in diesen Teufelskreis hineingetrieben: Ehrgeizige Mütter fahren die Kleinen vom Ballettunterricht zum Tennislehrer, von der Klavierstunde zum Schwimmlehrgang, vom Bastelkurs zur rhythmischen Gymnastik. Die Kinder haben kaum noch Zeit für freies Spielen, und viele können es nicht mehr.
    Später im Beruf ist die Gefahr besonders groß, dass wir Zweck mit Sinn verwechseln. Wenn ein Mensch sein Leben nur darauf ausrichtet, dass er möglichst viele Erfolge erzielt, fehlen ihm die Freiräume, die ungeplant Freude bereiten. Deshalb soll sich niemand unter Druck setzen – weder beim Sport noch beim Hobby im Keller, weder beim Reisen noch bei Wochenend-Terminen. Wer diese zweckfreie Grundhaltung missachtet, führt sich selbst in immer größere Zwänge hinein, die das ganze Leben bestimmen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, jede Kreativität und Lebensfreude zerstören. Die Erfahrung zeigt sogar, dass dieser künstlich aufgebaute Druck in der Arbeit schlechte Ergebnisse zur Folge hat. Ältere Menschen hören in
ihrem Betrieb häufig den Vorwurf, sie seien nicht mehr in der Lage, die vorgegebenen Ziele zu erreichen. So eine Äußerung des Chefs bedeutet im Klartext, dass dieser Mitarbeiter zum alten Eisen gehört und schleunigst ausgewechselt werden muss, sonst verfehlt eventuell das Unternehmen seine geplante Umsatzrendite um 0,02 Prozent. Dass man dem betroffenen Mitarbeiter mit dieser Einstellung den Boden unter den Füßen wegreißt und ihm das Gefühl gibt, er sei für die Gesellschaft nutzlos geworden, scheint kaum jemanden zu interessieren – Hauptsache, das Ziel wird erreicht. Hier zeigt sich ein bedrückender Fehler in unserem gesellschaftlichen System.
    Umso sinnvoller ist es, dass alte Menschen ihren Lebensabend anders gestalten, indem sie nach Möglichkeit jeden Erfolgsdruck vermeiden. Die bewusste Zweckfreiheit gibt ihrem Leben seinen Sinn zurück und schenkt dem Menschen neue Freude und Kreativität. Alte Frauen und Männer müssen sich ihren Selbstwert wieder bewusst machen, der sich im wahrsten Sinn des Wortes von all den Werten unterscheidet, die man für Beurteilungen gerne heranzieht – vom Marktwert der hergestellten Produkte bis zum Blutdruckwert in der Arztpraxis. In einer Welt, in der alle rastlos unterwegs sind und zwischen Auto und Flugzeugen, zwischen Intercity-Zügen und Fahrstühlen hin und her rennen, muss es auch Menschen geben, die einfach nur »da« sind – die Alten. So verrückt es klingen mag: Für unsere überdrehte Gesellschaft könnte allein die Präsenz der alten Menschen ein stabilisierender Beitrag sein, der allen guttut. Die Dreijährigen im Kindergarten brauchen weniger einen Computer, sondern eine Großmutter, die ihnen Märchen und Geschichten vorliest. In unseren modernen Erziehungssystemen werden diese Traditionen oft unterschätzt, und für die ältere Generation könnten solche gesellschaftlichen Aufgaben dem Leben neuen Sinn geben – frei von Erfolgsdruck und Verzweckung. Haustiere
sind dafür ein gutes Beispiel: Eine Katze, der Hund oder der Wellensittich erfüllen keinen Zweck – sie sind einfach da und machen den Menschen Freude. Da fragt man sich: Warum ist diese Wertschätzung bei Tieren vorhanden, aber nicht bei alten Leuten?
    Im Grundgesetz heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Von Arbeit oder Leistung ist an dieser Stelle nichts zu lesen. Ein Mensch ist wertvoll, weil er »da« ist. Eine Gesellschaft, die das missachtet, schadet sich selbst. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Alten und deren eigene Apathie führen zu einer Interesselosigkeit, die sich wie ein Krebsgeschwür übers Volk ausbreitet.
    Was können ältere Menschen dagegen tun? Das wirksamste Mittel ist wahrscheinlich, dass sie wieder Wertschätzung für sich selbst entwickeln. Das kann damit beginnen, dass man sich äußerlich und innerlich pflegt, dass man die eigene Zeit nicht totschlägt, sondern sich bewusst bewegt – körperlich und geistig. Auch dass man Frieden schließt mit sich und seinem Leben, kann alten Menschen helfen, Sinn, Freude und Harmonie zu empfinden. Noch wichtiger ist der Umgang mit einem der wertvollsten Luxusgüter der Gegenwart: Zeit! Ältere Menschen besitzen diese Kostbarkeit im Übermaß – zum Nachdenken übers

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