Ich bin dann mal offline
Milliarden Dollar zur wertvollsten Marke der Welt küren; die ständig neuen Internetfirmen, die alle gleich heißen: Meebo, Bebo, Zalando, Traviago -oder Twitter, Flickr, Tumbir, Talkr, Anothr, Flattr. Seine Vorbehalte kommen vielleicht auch daher, dass er vor ziemlich genau zehn Jahren schon einmal beim Platzen einer großen Internetblase hautnah dabei war. »Davor hatten alle wie verrückt nach OnIine-Redakteuren gesucht«, erinnert er sich. »Alles, was damals im Vorstellungsgespräch gefragt wurde: ob ich OnIine-Erfahrung besäße. Ich sagte ja -dabei war ich bis dahin genau drei Mal im Internet gewesen. Aber das spielte keine Rolle -Geld auch nicht.« Ein paar Monate später war es vorbei mit der digitalen Goldgräberstimmung. Auch heute befürchten Kritiker, dass es hochgejubelten Firmen wie Facebook oder Twitter, die allesamt über viel Nutzermasse, aber keine althergebrachten »Erlösmodelle« verfügen, bald ebenso gehen könnte.
Trotz seiner Skepsis erzählt mir Jörg begeistert vom gestrigen Konzert einer Band, die er nur über das Internet entdeckt hat. Wieder so ein Moment, in dem ich mich seltsam abgekoppelt fühle von alldem, was meinen Freunden wichtig ist -plötzlich nicht mehr mitreden kann. Immerhin bin ich heute Abend nicht der einzige, der ganz altmodisch auf modeme Kommunikationsmittel verzichtet: Jörg hat sein Handy zuhause vergessen. Im Grunde nicht schlimm, aber eigentlich soll sich später noch unser gemeinsamer Freund Armin zu uns gesellen -und. wie immer wurde nur verabredet: »Wir rufen uns dann einfach zusammen.« Als die Zeit gekommen ist, macht sich Unruhe in uns breit. »Wir müssen ihm Bescheid sagen, wo wir sind«, fasst Jörg unser Dilemma zusammen. Nur wie? Wir trauen unseren Augen kaum, aber in dem gemütlich holzvertäfelten Restaurant, in dem wir sitzen, sehen wir hinten in der Ecke tatsächlich eine Tür mit einer im Jugendstil verzierten Scheibe, auf der steht »Telefon«. Natürlich befindet sich dahinter jedoch schon seit Jahren kein Münztelefon mehr -sondern ein Zigarettenautomat und ein Metallständer für Gratispostkarten. Als wir am Tresen fragen, ob wir ausnahmsweise das Telefon der Gaststätte benutzen dürfen, heißt es »Nur Festnetz, Handynummern sind gesperrt«. Was wir für eine glatte, aber verständliche Lüge halten. Könnte ja jeder kommen. Leider hat Jörg nur die Handynummer von Armin parat, und laut dem Mann am Zapfhahn ist auch keine Te-lefonzelle in der Nähe. »Frag doch einen Gast, ob du kurz sein Handy benutzen kannst«, schlage ich Jörg vor. »Frag doch selber«, gibt dieser zurück Aber erstens essen um uns herum gerade alle, und zweitens bin ich noch etwas verstört von meinem Anstupsfiasko kurz zuvor. Mein Bedarf, mich fremden Menschen aufzudrängen, ist für heute gestillt.
Frustriert trinken wir aus und bezahlen. »Wie kann man nur so bekloppt sein und sein Handy vergessen?«, denke ich bei mir. Aber vermutlich denkt Jörg im selben Moment: »Wie kann man nur so bekloppt sein und wochenlang sein Handy abschalten?« Immerhin hat Jörg im Kopf, wo Armin wohnt, was ich nicht gewusst hätte, und wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Nachdem wir lange schweigend durch die Kälte gestapft sind, geklingelt und gewartet haben, bis das Treppenhauslicht angeht und Armin zur Tür herauskommt, fragt er uns zur Begrüßung: »Was soll denn das Geklingel? Die Kinder schlafen doch schon! Warum ruft ihr nicht an?« »Frag nicht«, antworten wir beide gleichzeitig. Dann müssen wir lachen. Vierzehn Dinge, die das Handy auf dem Gewissen hat
•Unser Gedächtnis für Telefonnummern
•Die Armbanduhr
•Die Armbanduhr mit eingebautem Taschenrechner
•Das Freizeichen
•Das kleine schwarze Notizbuch umtriebiger Junggesellen dem ich eine ganze Villa für mich alleine habe, langsam
•Den Reisewecker
•Das Hoteltelefon
•Pünktlichkeit bei Verabredungen
•Langeweile an der Bushaltestelle
•Telefonzellen an jeder Ecke
•Streits um die WG-Telefonrechnung
•Telefonkarten-Sammler
•Toiletten, auf denen nicht telefoniert wird
•Eltern, die schimpfen: »Blockier nicht den ganzen Tag die Leitung!«
kapitel 4
Indem ich eine ganze Villa für mich alleine habe, langsam Geschmack an der Stille finde -und lerne, dass es gar nicht so einfach ist, bei Facebook dauerhaft auszusteigen.
Tag 22 Um drei Ecken beeinflusst
Seit mir das Internet als Zerstreuungsmaschine nicht mehr zur Verfügung steht, sehe ich wie schon geschildert wieder mehr fern. Aber
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