Ich bin dann mal offline
steht offen, aber niemand ist zu sehen. Bis auf das Knarren der alten Holztreppe ist keinerlei Geräusch zu hören, als ich in den ersten Stock hinaufgehe. Auch hier: keine Menschenseele. Ich sehe auf meine Uhr und merke, dass ich wie immer in diesen Tagen zu früh bin -allerdings gerade mal eine Viertelstunde. Sind alle Gäste noch unterwegs und die Veranstalter selbst so spät dran? Die großen, eleganten Räume sind allesamt erleuchtet, in einem von ihnen stehen auch bereits artig aufgebaute Stuhlreihen, es gibt sogar eine Küche, in der mehrere große Einkaufstüten stehen. Wäre ich mit dem Auto da und hätte eine größere kriminelle Energie, könnte ich vom Tafelsilber bis zum Kronleuchter reiche Beute machen. Der einzige Zeuge wäre eine kupferrote Katze, die sich auf dem Fenstersims oberhalb einer leise klopfenden Heizung wärmt. Ihr Blick verheißt mir Stillschweigen -aber ich will ja gar nichts mitnehmen. Ich will, dass Armin kommt und aus seinem Buch vorliest und jemand Weinflaschen öffnet und Schnittchen reicht. Oder zumindest, dass ein Hausmeister kommt und mich fragt, was ich hier will-und mich zwei Sätze später nach nebenan in eine noch prächtigere Villa mit noch größeren Wein-und Schnittchenvorräten schickt, in die die Lesung verlegt werden musste. Doch nichts passiert. Unter normalen Umständen würde ich einfach Armin anrufen, um herauszufinden, wo das Problem liegt. Doch ohne Handy kann ich weder das tun, noch auf irgendeinem anderen Weg klären, ob der Termin verschoben wurde oder alle Teilnehmer samt und sonders aufgrund mysteriöser Umstände am selben teuflischen Virus erkrankt sind. Dies ist der erste Moment meines Selbstversuchs, in dem ich bereit wäre, mein Gelübde zu brechen und in ein Internetcafe zu gehen, um a) nachzusehen, ob ich eine Absage der Lesung per Mail bekommen habe. Um b) zu googeln, ob der Termin beziehungsweise seine Verschiebung irgendwo angekündigt ist. Und um c) Armin eine Reihe unflätiger Beschimpfungen zu schicken, für deren Grobheit ich mich am nächsten Tag entschuldigen müsste. Doch in einem VillenWohnviertel wie diesem hier gibt es natürlich keine Internetcafes oder Callshops, die mit billigen Tarifen nach Angola werben. Hier gibt es nur Hecken und Hermes. Ich will gerade missmutig nach Hause stapfen, als ich auf einem Tisch neben dem Katzensims ein Blatt Papier entdecke. Auf ihm ist die Bestuhlung aufgemalt sowie eine Einkaufsliste für die Getränke und das Catering. Die für mich interessanteste Information steht jedoch groß darüber: Armins Name -und das morgige Datum.
Eine Antwort, die natürlich sofort mehrere neue Fragen aufwirft: Warum bin ich nicht wie sonst zurzeit üblich ein paar Minuten zu früh, sondern gleich einen ganzen Tag? Hat mir Armin den falschen Termin gesagt? Oder ich ihn mir falsch gemerkt? Wie soll man das bei einer Einladung, die nur mündlich über einer Panna Cotta nach unserem gemeinsamen Abendessen ausgesprochen wurde, jemals herausfinden? Ist es überhaupt wichtig? Und warum zum Teufel ist hier trotzdem Festbeleuchtung, und alle Türen stehen sperrangelweit offen?
Tag 23 Der Geräuschesammler
Zumindest ein Teil der Rätsel des gestrigen Abends lassen sich relativ leicht lösen: »Ich muss dir aus Versehen den Termin der Lesung in München gegeben haben«, entschuldigt sich Armin, als ich ihn anrufe. »Die war nämlich gestern. Heute ist die in Berlin. Kommst du trotzdem noch mal?« Ich verspreche, zu kommen -immerhin kenne ich jetzt ja schon Weg, Sitzplan und Hauskatze. Und sein Buch will ich ja auch endlich zu sehen bekommen.
Zunächst führt mich meine eigene Recherche an diesem Tag jedoch in die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Es ist fast zehn Jahre her, dass ich zuletzt in einer großen Unibibliothek war, damals anlässlich meiner Magisterarbeit. Und auch wenn es damals eine andere Bibliothek war, erkenne ich die Geruchsmischung aus alten Büchern, noch älterer Auslegeware und der spülmaschinendampfigen Cafeteria-Tabletts sofort wieder. Das Verrückte: Ich mag diesen Geruch. Ebenso wie die gesamte Atmosphäre des konzentrierten Lernens, der Achterbahn aus Langeweile und Prüfungspanik, aus Geistesblitzen und Kaffeepausen. Als ich durch die Regalreihen gehe, fällt mir noch einmal Clay Shirky ein und seine These, dass es kein »Zuviel« an Informationen gäbe, sondern nur schlechte Filter. »Die Klagen über die angebliche Informationsüberflutung gibt es doch schon seit Ewigkeiten«, sagt Shirky. »Aber
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