Ich bin dann mal offline
als ich sie in der Redaktion in Ohio anrufe. »Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, und die Schreiber sind über ihre Heimatgemeinde hinaus bekannt.« Ebenso wie der gesamte Lebensstil der Amish mag ein Wochenblatt wie The Budget auf den ersten Blick antiquiert wirken und dem Untergang geweiht. Und doch könnte es die Zeitung sein, die noch gedruckt werden wird, wenn alle anderen längst auf das iPad oder andere sogenannte TabletPCs verlagert wurden, mit Digitaltechnik auf die Netzhaut der Leser projiziert oder direkt in unsere Gehirnströme eingespeist werden. »Ich gehe davon aus, dass es The Budget noch auf Papier geben wird, wenn Zeitungen wie die New York Times vielleicht nur noch onIine erscheinen«, sagt auch Fannie Erb-Miller zuversichtlich. Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich hoffe nur, dass es dann auch noch Druckerpressen geben wird, damit wir sie weiterhin drucken können.«
Als ich -ungefähr bei der Hälfte meines Selbstversuchs angelangt -in Berlin an meinen Besuch bei den Amish zurückdenke, fühle ich mich ihnen plötzlich verbundener als damals. Während mir viele der Regeln befremdlich und willkürlich erschienen, kann ich heute besser verstehen, warum sie mir schon damals trotzdem so zufrieden und mit sich im Reinen vorkamen. Ich erinnere mich, wie ich über die Angst schmunzelte, die David Yoder und Jacob und Elliot Graber vor der modemen Welt und ihren Anforderungen zu haben schienen. Aber hatte ich nicht eine ähnlich starke Angst gehabt, als mein Selbstversuch näher rückte und es darum ging, auf all meine digitale Kommunikation zu verzichten? Es ist immer das Fremde, Unvertraute, das uns schreckt. Dabei klappt meine Abstinenz inzwischen, nach fast drei Wochen, eigentlich sehr gut. Wenn mich die Grabers sehen könnten!
Tag 20 Freunde und Freundesfreunde
Mein Freund Jörg, ein Architekt, der eigentlich in Köln wohnt, ist für ein Projekt in der Stadt, und wir haben uns auf ein Bier verabredet. Als ich tagsüber am Telefon Jessica davon erzähle, fragt sie:
»Jörg? Ist das ein guter Freund von Dir? Von dem hast du noch nie erzählt.« Sie hat recht. In den drei Jahren, die wir zusammen sind, habe ich ihn höchstens einmal gesehen, dazu ein oder zwei Telefonate, eine Handvoll Mails. »Gute Frage«, antworte ich. »Er ist jedenfalls ein alter Freund. Eigentlich auch ein guter, auf alle Fälle mehr als ein guter Bekannter. Wir waren sogar mal zusammen eine Woche im Urlaub. Aber in letzter Zeit hatten wir nicht so viel miteinander zu tun.« -»So wie bei mir und Tanja?«, fragt Jessica. »Ziemlich genau so«, antworte ich -und bin froh darüber, dass wir beide wissen, wovon wir reden, auch wenn es schwierig ist, hundertprozentig korrekte Begriffe dafür zu finden. Wollen wir Freunde sein?
Über wenig gibt es in Bezug auf das Internet so viele Missverständnisse wie über das Thema Freundschaft. »Da haben die Leute dann 200 oder 500 Freunde -wer soll das denn glauben?«, empören sich die Kritiker von Facebook oder MySpace. Das Internet zerstöre die wahre Freundschaft, behaupten Pessimisten wie der Kulturkritiker William Deresiewicz. »Wir haben so viele Freunde im Internet, dass wir ein neues Wort für die echten brauchen«, fordert die Werbekampagne einer Tageszeitung.
»To unfriend« -also jemandem die (virtuelle) Freundschaft kündigen -wurde 2009 vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt. 16
Ich bin der Ansicht, dass der allergrößte Teil der Debatte über »Internetfreundschaft« versus »echte Freundschaft« komplett überflüssig ist. Nicht, weil eines davon wichtiger, richtiger oder überlebensfähiger wäre als das andere oder weil sie sich gegenseitig ausschließen. Sondern weil die meisten Menschen intuitiv zwischen den beiden Arten unterscheiden können und es Dutzende Male am Tag tun -oft bewusst, meistens aber auch ganz automatisch. Wer glaubt, dass seine Mitmenschen ihren besten Freund nicht von einem Online-Profil unterscheiden können, ist so behämmert, wie er es diesen Mitmenschen zu sein unterstellt. Jedem klar denkenden Menschen ist völlig klar, dass die Tatsache, ob man jemanden um Hilfe bitten würde oder im Krankenhaus besucht, nicht im geringsten davon abhängt, ob ma~ auf Facebook befreundet ist oder nicht. Die Liste der Menschen, an die ich mich wenden würde, wenn morgen mein Haus bis auf die Grundmauern abbrennt, ist natürlich eine vollkommen andere als meine Facebook-Freundesliste. Manche Menschen sind auf bei den von diesen Listen,
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