Ich bin dann mal offline
manche nur auf einer davon, manche auch auf keiner der beiden und ich nehme mir trotzdem das Recht heraus, sie meine Freunde zu nennen. Die ganze angebliche Verwirrung um den Freundesbegriff, die durch die sozialen Netzwerke entstanden ist, ist nur eine scheinbare. Denn die Nuancen der unterschiedlichsten Freundschaftsmödelle waren schon immer feiner, als die Sprache sie vermitteln konnte. »Freund« konnte schon immer viel bedeuten -vom Kindergartenfreund, den man seit Ewigkeiten kennt, aber mit dem man nicht mehr allzu viel zu tun hat, über den besten Freund , den man vielleicht noch gar nicht so lang kennt, aber dafür sehr gut, bis zu dem Kollegen, der eben mehr ist als nur das, weil man auch privat gerne Zeit miteinander verbringt. Diejenige tiefe Freundschaft, die man »im echten Leben« meist nur für eine Handvoll Menschen empfindet -meist die, bei denen man ohne zu zögern morgens um vier klingeln würde, wenn einen der Partner rausgeworfen hat -entsteht aus miteinander verbrachter Zeit, gewachsener Loyalität und Ehrlichkeit, aus Liebe, regelmäßigem Austausch, gemeinsamer Freude und gemeinsamem Frust. Doch diese Form der Freundschaft ist nur eine von vielen -eine, die völlig unabhängig von Facebook existiert und vom Internet weder gefördert noch.bedroht wird.
Trotzdem haben Netzwerke wie Facebook natürlich im Bereich der Freundschaft etwas bewegt und verändert: Sie haben den »sozialen Graphen«, also das Netzwerk unserer verschiedenen Beziehun16 Ein Jahr zuvor hatte die Konkurrenz, das Webster's New World Dictionary, den Begriff »overshare« zum Wort des Jahres gemacht, jenes unschöne und vor allem im Internet häufig anzutreffende Verhalten, sein Umfeld mit zu vielen und zu intimen Details zu behelligen. gen, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sichtbar gemacht -für uns selbst, aber auch für andere. Sicherlich gab es früher auch schon Adressbücher, aber erstens veralteten deren Einträge nach und nach -und man konnte nicht binnen Sekunden eine Liste aller Freunde, Bekannter und Kollegen erstellen, die in der selben Stadt wohnen wie man selbst. Im Internet geht das. Der zweite, viel wichtigere Unterschied ist jedoch: Als die Freundeslisten noch in handgeschriebener Form in ledergebundenen Büchern standen, wäre man nie auf die Idee gekommen, darin zu stöbern. Auf den meisten sozialen Netzwerken lässt sich (je nach individuellen Einstellungen der Privatsphäre) relativ schnell und einfach sehen, mit wem unsere Freunde befreundet sind, welche Freunde wir gemeinsam haben und so. weiter. Früher hatten wir das teilweise im Kopf, teilweise aber eben auch nicht -weil man es gar nicht immer wissen konnte. Das führte früher bisweilen zu lustigharmlosen Situationen, dass man zwei Personen, mit denen man auf völlig unterschiedlichem Weg befreundet war, einander vorstellen wollte -und diese plötzlich sagten: »Wir kennen uns doch schon ewig, wir haben doch fünf Jahre lang miteinander studiert.«
Als der französische Soziologe Pierre Bourdieu in den achtziger Jahren vom »sozialen Kapital«
sprach, hatte er vermutlich nicht unseren »Friend Feed« bei Facebook im Sinn, der uns jeden Tag darüber auf dem Laufenden hält, wie sehr unsere Freunde von ihrer Arbeit oder dem Wetter genervt sind. Dennoch sind unsere Freundschaften -oder »Bekanntschaften« oder »Menschen, die wir kennen«, wenn FreundschaftsHardlinern diese Begriffe lieber sind ~ auch Teil unseres sozialen Kapitals. Der amerikanische Soziologe Robert D. Putnam hat versucht, dieses soziale Kapital in zwei verschiedene Arten aufzuteilen: in das sogenannte Bonding Capital (also etwa »verbindendes Kapital«) und das Bridging Capital (sozusagen »überbrückendes Kapital«). Während das Bridging Capital etwas darüber aussagt, mit wie vielen unterschiedlichen Menschen wir verbunden sind, aus welchen unterschiedlichen Sphären und Schichten diese stammen, wie groß also gewissermaßen unsere
»Reichweite« ist, sagt das Bonding Capital mehr darüber aus, wie eng unsere Bindungen sind, wie groß unser gegenseitiges Vertrauen und unsere Wertschätzung _ also vielleicht wie viel »guter Freund« in einer Freundschaftsbeziehung steckt. Anders formuliert: Bridging Capital fragt danach, wie viele Menschen man kennt, denen man Geld leihen würde. Bonding Capital hingegen stellt die Frage, wie viel man jedem einzelnen von ihnen leihen würde.
Abends treffe ich mich mit Jörg, den ich meinen Freund nenne, obwohl wir nicht auf
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