Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
entgegen. Die Gegend wird noch schräger, denn es geht entlang ausgetrockneter gelber Äcker, wo die Häuser höhlenartig in die Erde gebaut sind. Bald sieht man nur noch endlose verwahrloste Flächen, hier und da abbruchreife unbehauste Hütten, sonst gar nichts.
Auf einer sanften Erhebung mitten in dieser Science-Fiction-Pampa, die Nachmittagssonne knallt mir auf den Pelz, kommt mir ein älterer braun gebrannter Mann mit weißem Bart und Brille entgegen. Ein komischer abgerissener Vogel in weißem Hemd und schwarzer Hose. Er sieht nicht aus wie ein Obdachloser, sondern wie jemand, der sein Gedächtnis verloren hat und nun durch diese menschenleere Gegend irrt. Während er ein bisschen wackelig auf mich zukommt, spüre ich: Der quatscht mich jetzt blöde an. Genau das tut er dann auch und zwar auf Spanisch.
»Hola amigo, wo kann ich hier wohl schlafen?«
Das ist definitiv eine abgefahrene Frage, aber betrunken ist er nicht! Ich schaue auf seine sockenlosen Füße, sie sind blutig wund gelaufen und die Schnürsenkel seiner verdreckten Designer-Schuhe hängen lose herunter. Seine Lippen sind aufgesprungen und voller Blasen. Er hat kaum noch Zähne im Mund.
»Wo wollen Sie denn hin?«, frage ich vorsichtig.
»Santiago«, ist die kurze Antwort.
»Santiago liegt aber in der anderen Richtung«, entgegne ich verdutzt und deute nach Westen.
»Ich weiß«, sagt er und grinst, als wolle er mir gleich ein Messer in den Leib rammen.
»Und wo kommen Sie her?«, taste ich mich weiter. Er habe in einem schrecklichen Hotel zehn Kilometer von hier übernachtet und wolle jetzt irgendwo einfach nur schlafen. Ein einfaches Bett sei okay.
Ich erkläre ihm, dass es in León eine Menge albergues und Hotels auf dem Weg gebe, die könne er gar nicht verfehlen. Im Gegenzug will er von mir wissen, wohin ich denn wolle. Jeder Idiot kann an meinem Outfit erkennen, wohin ich will! Trotzdem nenne ich ihm das Ziel meiner Pilgerreise, das ja angeblich auch sein Ziel ist: »Santiago.« Er schaut mich durchdringend an und sein Kopf scheint auf eine verrückte Idee zu kommen. Seine darauf folgende waghalsige Entscheidung haut mich fast um: »Weißt du was? Ich gehe mit. Wo willst du heute hin?«
Ich schweige erst mal und nachdem ich mich wieder gefasst habe, erkläre ich ihm, dass ich heute noch an die zwanzig Kilometer ohne Pause laufen werde – in der Hoffnung, ihn damit abzuschrecken. Mein Abschreckungsmanöver hat nicht gezündet. Er sagt nur »Okay.« Er will mitkommen!
Eigentlich will ich das nicht und schaue mir den Mann genauer an. Er sieht zwar abgerissen aus, aber die dreckigen Schuhe sind neu und teuer. Die schwarze Jeanshose ist ein Markenartikel und sitzt wie angegossen. Das fleckige Hemd hängt zwar zerknittert aus der Hose, ist aber auch nicht billig gewesen. Genauso wenig seine Brille. Wer ist dieser Typ?
Ich denke an Evi. Vertraue deiner inneren Stimme! Meine Intuition sagt: »Es könnte interessant werden.« Also höre ich mich gut vernehmbar sagen: »Okay, meinetwegen komm mit.« Schon meldet sich mein Kopf: »Bist du lebensmüde? Der Typ ist vollkommen verrückt, der wird dich ausrauben und umbringen.«
Zu spät! Wir marschieren schon nebeneinander her Richtung Westen. Er läuft mit mir dahin zurück, wo er offensichtlich hergekommen ist. So weit das Auge reicht, sind wir zwei die einzigen Lebewesen, die in dieser abweisenden Gegend vorantrotten. Kein Auto fährt vorbei. Nichts. Nur wir beide.
Der Mann schnauft schwer und schwitzt dicke Tropfen aus seiner großporigen Haut. Ich frage nach seinem Namen. Americo Montinez de la noch was, sechsundfünfzig Jahre alt, Peruaner. Wie ein Peruaner sieht der nicht aus. Aber dem Akzent nach zu urteilen ist er Südamerikaner.
»Und was machst du hier?«, frage ich.
»Urlaub«, lautet die verblüffende Replik.
»Urlaub? Ohne Koffer, ohne Rucksack?«, frage ich. »Brauche ich nicht«, sagt er, »ich hab viel, viel Geld dabei. Wenn ich was brauche, kaufe ich was.«
Nie im Leben ist der sechsundfünfzig. Der sieht viel älter aus, aber er ist eigentlich gar nicht unsympathisch. Was er denn in Spanien noch unternehmen wolle? Americos Antwort darauf ist ein echter Knaller: »Ich will ein Blatt einer einzigartigen Pflanze pflücken, die es nur in Spanien gibt und die außerhalb von Madrid in der Sierra wächst. Aber leider ist die Pflanze auf Geheiß des ›Opus Dei‹, einer Geheimorganisation der katholischen Kirche, entfernt worden. Und auf die bin ich jetzt
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