Ich bin dein, du bist mein
sondern empfängt sie mit offenen Armen und geschlossenen Augen. Lässt sich von ihr erfüllen, von ihr leiten.
Wenn man liebt, gibt es nur die Liebe und sonst nichts.
Die Liebe ist eine eifersüchtige Göttin. Wer ihr gehorcht, dem verleiht sie Flügel. Bald würde auch Judith sich dieser höheren Macht ergeben müssen. Sie konnte gar nicht anders. Denn wer die Liebe leugnet, den zerstört sie.
Zufrieden schaltete Gabriel den Rechner aus.
Unten im Keller wartete Arbeit auf ihn.
Der schwülheiße Sommer, der sich in den vergangenen Wochen wie eine alles erstickende Glocke auf die Stadt gelegt hatte, fand an diesem Nachmittag ein vorläufiges Ende. Schon vor Stunden hatten sich im Westen die Wolken zu schwarzen Bergen aufgetürmt. Jetzt, als Judith dasHaus verließ, um ihr Fahrrad beim Schwimmbad abzuholen, hatte der Wind aufgefrischt. Erste schwere Tropfen fielen auf den Asphalt, verdunsteten aber augenblicklich. Judith hastete zur Haltestelle und suchte unter dem Dach des Wartehäuschens Schutz. Gerade noch rechtzeitig, denn auf einmal goss es in Strömen. Es war, als müsste die Stadt tief Luft holen. Es wurde dunkel. Die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich auf der Straße, Gischt spritzte hoch, der Staub wurde weggespült und verschwand mit den trockenen Blättern in den Gullis.
Judith trat einen Schritt zurück, als der Bus hielt, und stieg ein. Sie hielt ihre Schülerkarte in die Höhe, doch der Fahrer schaute nicht mal hin. Sie setzte sich auf den Platz an der vorderen Tür, der normalerweise für alte Leute und Behinderte reserviert war. Trotz des Regengusses war die Luft noch immer schwül, das Atmen fiel schwer. Der Busfahrer schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Erst als eine Mutter mit ihrem vollkommen durchnässten kleinen Kind eingestiegen war, drückte er endlich die Knöpfe für die Türen. Kurz bevor sie sich schlossen, rief eine alte Dame aus dem hinteren Teil des Busses: »Warten Sie! Da will noch jemand einsteigen!«
Der Fahrer gab einen missbilligenden Laut von sich und drückte ein zweites Mal den Schalter für die hintere Tür. Ein junger Bursche mit Baseballmütze polterte inden Bus und hob zum Dank kurz die Hand. Er hatte über seine Kappe noch die Kapuze seines Hoodies gezogen. Er stempelte seine Buskarte ab und setzte sich in die letzte Reihe.
Der Busfahrer schüttelte den Kopf, schloss die hintere Tür zum zweiten Mal und fuhr dann endlich an.
Judith lehnte den Kopf an die Scheibe. Sie schloss die Augen und dachte an Jan. Sie bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Nie im Leben hätte sie ihn angerufen, dazu war sie einfach zu stolz. Jan hatte ihr zweimal gemailt, dass er sich mit ihr treffen wollte. Aber was gab es da noch zu bereden? Das, was sie heute Morgen in der Schule hatte miterleben dürfen, hatte ausgereicht, um ihr jede Illusion zu rauben.
Ihr war elend und eigentlich wollte sie nur alleine sein. Sie hatte einen Knoten im Bauch. Etwas, was sich in ihr verkrampfte und langsam zu ihrem Herzen hochwanderte. Erschrocken hatte sie festgestellt, dass sie wieder angefangen hatte, an den Fingernägeln zu kauen. Eine Unart aus ihrer Kindheit, die sie längst überwunden geglaubt hatte.
Judith suchte in ihrer Jeans nach dem Telefon, das sie auch als MP 3-Player benutzte, steckte sich die kleinen Hörer in die Ohren und suchte nach dem richtigen Soundtrack für ihre Stimmung. Der Bus war nur halb voll. KaumPendler unterwegs, obwohl es bereits fünf Uhr war und die Feriensaison vorbei.
Judith drehte sich auf ihrem Sitz um und betrachtete die Fahrgäste, die hinter ihr saßen. Dabei hörte sie ein Stück von der Playlist, die ihr Jan einmal zusammengestellt hatte.
Einer alten Frau, die die Rückenlehne des Vordersitzes mit ihren knotigen Fingern umklammerte, schien die Schwüle besonders zu schaffen zu machen, denn sie atmete kurz und stoßweise. Hinter ihr saß ein Mann, der in sein Handy vertieft war und dabei nervös mit dem rechten Bein wippte. Neben Judith, auf der anderen Seite des schmalen Gangs, saß ein schwarzhaariges Mädchen, das unentwegt Kaugummiblasen platzen ließ und dabei angestrengt aus dem Fenster schaute, als gäbe es da draußen etwas Besonderes.
Doch die Welt war in ein undurchsichtiges Grau gehüllt. Judith schloss die Augen. Auf einmal musste sie an Bogdans Worte denken. Dass es Menschen gab, die tatsächlich an gebrochenem Herzen starben. Judith drehte die Musik lauter.
Sie war die Einzige, die am Schwimmbad ausstieg. Mittlerweile hatte es zwar
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