Ich bin dein Mörder: Thriller (Sam Burke und Klara Swell) (German Edition)
erkennen gehörte selbst für Landärzte zur Grundausbildung. Was dafür sprach, dass Tom dem Muster seines ersten Mordes treu geblieben war und die Leichen versteckt hatte. Es bot zumindest einen Ansatz und war auch der Grund von Sams Zugfahrt nach Washington. Er gähnte und nippte an seinem Kaffee, um die Müdigkeit der frühen Stunde so gut wie möglich in Schach zu halten.
Als sie New Haven erreichten, beobachtete Sam einen Mann in den Vierzigern, der einen schweren Seesack hinter sich herschleppte, den er alle paar Meter absetzen musste. Er entsprach, aus reinem Zufall, wie Sam natürlich wusste, in etwa seinem Profil. Könntest du derjenige sein, der mir die Briefe schickt?, fragte sich Sam. Wärst du in der Lage, über 25 Jahre lang zu morden und damit davonzukommen? Eines der größeren Probleme beim Profiling war, dass man zwar mit der Zeit eine recht genaue Vorstellung davon bekam, wen man suchte, aber dass jede individuelle Aussage ohne konkrete Beweise vollkommen unmöglich war. Der Mann vor dem Fenster sah kräftig aus, er hatte Schwielen an den Händen, die von harter physischer Arbeit stammten. Da Sam noch nicht wusste, wie sich das Leben von Tom weiterentwickelt hatte, konnte er keinerlei Aussage über seine Berufswahl treffen. Manchmal ergaben sich aus dem Job, mit dem Täter ihr Geld verdienten, gute Hinweise: Fred Tergut hatte seine Opfer mit einer Nagelpistole auf den Fußboden getackert, es hatte sich herausgestellt, dass er Schreiner war. Arnfinn Nesset hat mindestens 22 Menschen vergiftet. Er hatte eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Aber was Tom anging, hatte Sam trotz der Offenheit, mit der die Briefe verfasst waren, zu wenig Informationen. Der erste Brief enthielt wenig Substanzielles, eher vage Ankündigungen und pseudophilosophisches Gequatsche. Der zweite und dritte verrieten Sam zumindest den Auslöser. Ein etwas blumig gehaltener Bericht über einen Mord respektive Totschlag an seiner damaligen Freundin namens Betty. Und der letzte? Toms erstes geplantes Verbrechen, ein sexuell motivierter Mord an einer Prostituierten. Sam baute darauf, dass seine Kollegen in Quantico etwas gefunden hatten. Sie hatten versprochen, sich den Fall zumindest unter der Hand anzusehen.
Sam wurde von Shirin am Empfang abgeholt und mit dem obligatorischen Besucherausweis ausgestattet. Sam kam nicht umhin zu bemerken, dass sie wieder einmal umwerfend aussah. Sie trug eine Art kurzen Hijab, ein Kleid in sämtlichen Beerenfarben, das mit seiner angenähten Kapuze bis über den Kopf reichte. Dazu lilafarbene Sandalen mit skandalösen Absätzen und eine Jeans unter dem Hijab.
»Haben Sie genug gesehen, Sam Burke?«, fragte sie, als sie den Aufzug betraten.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Shirin, aber ich glaube nicht, dass der Prophet auch nur die leiseste Vorstellung davon hat, was Frauen aus seinen Kleidervorschriften machen können«, lachte Sam und fragte sich insgeheim, ob seine Witze irgendwelche Religionsgrundsätze verletzten. Was vermutlich der Fall war, allerdings war das weniger wichtig als Shirins Reaktion, die ihn breit angrinste, aber ansonsten nichts weiter dazu sagte. Sam fragte sich, ob sie mit ihm auf Islamisch flirtete, und schloss es eine halbe Sekunde später wieder aus. Theoretisch, wenn auch sehr theoretisch, könnte sie seine Tochter sein. Sie brachte ihn zu Bennetts Büro, was nun wirklich nicht nötig gewesen wäre, schließlich war es vier Jahre lang sein eigenes gewesen, aber so lauteten nun einmal die Vorschriften. Sein Nachfolger war noch in einer Besprechung, aber Sam wollte nicht auf ihn warten.
»Wie ich Ihrem charmanten Personenschutz entnehme, hat Bennett Sie mit der Recherche beauftragt, oder?«, fragte Sam und lehnte sich an das Regal, in dem früher sein gepackter Koffer gestanden hatte. Bennetts Reisetasche war wesentlich größer, ein schwarzes Monstrum, was vermutlich an seinen Körpermaßen lag. Obwohl sich Sam nicht erklären konnte, warum ein Jackett in 96 wesentlich mehr Platz wegnehmen sollte als eines in 50.
»Ja«, antwortete Shirin. Sonst nichts weiter. Offenbar wollte sie, dass er ihr alles aus der Nase zog.
»Und? Haben Sie auffällige Häufungen von Erstickungstoden in den letzten zwanzig Jahren gefunden?«, fragte Sam.
»Nein«, sagte Shirin. »Nichts. Ich habe die Suche über alle Datenbanken laufen lassen, auch die der lokalen Polizeibehörden. Wenn Ihr Würger wirklich existiert, dann …«
»… muss er die Leichen fortgeschafft
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