Ich bin der Herr deiner Angst
Moment wieder traktierte, doch ich sah, wie die Kollegen verstehend nickten.
Irre Menschen machten irre Sachen, die nur für andere Irre zu begreifen waren.
Wir sollten ganz froh sein, wenn wir dem Traumfänger nicht folgen konnten.
«Okay», sagte ich. «Hat dazu irgendjemand noch Fragen?»
Schon automatisch sah ich in Nils Lehmanns Richtung.
«Ja, also …» Gedehnt. Nachdenklich. «Was ich nicht begreife, ist die Sache mit dieser Krankenschwester. Doris?»
Ich sah auf meinen Notizblock. «Dagmar.»
«Dagmar. Woher wusste er, dass diese Dagmar diesen Knacks hat – mit dem toten Frosch? Und wenn sie so was hat, warum darf sie dann auf so einer Station arbeiten, wo die Patienten alle richtig einen weg haben?»
Manchmal waren seine Fragen gar nicht so dumm – lediglich etwas simpel formuliert. Doch ich kam nicht mal dazu, den Mund aufzumachen.
Jelinek, ganz hinten am Fenster, räusperte sich. «Meine Schwägerin war mal auf so einer Station. Nur für ein paar Wochen, nach ihrem Unfall. Also Schwippschwägerin.» Ein Blick zu Faber. «Die Frau vom Volker.»
Ein Nicken. Volker war bekannt – zumindest bei Max Faber.
«Nachher meinte sie jedenfalls, die hätten da alle einen weg. Auch das Personal.» Jelinek hob die Schultern. «Ist wohl normal da, dass die nicht normal sind.»
«Vermutlich ist das schlicht kein ganz einfacher Job», sagte ich. «Alten- und Krankenpfleger gehören zu den Berufsgruppen, die am häufigsten von Burnout betroffen sind. Ich kann mir vorstellen, dass man da auch am ehesten solche Auffälligkeiten zeigt. – Wobei so eine …», ich sah auf den Block, «Nekrophobie gewöhnlichen Leuten wahrscheinlich gar nicht auffällt. Schließlich ist das eine psychiatrische Klinik, in der die Schwester arbeitet. Die Leute dort sind zwar krank, aber eben nicht körperlich. Nicht lebensgefährlich krank. Wann sollte sie mit Leichen, Särgen oder Grabsteinen zu tun haben? Für Freiligrath war das eine ganz andere Sache. Der ist Psychologe und hat sich sein ganzes Leben darauf spezialisiert, die Ängste von Menschen zu erkennen.»
«Also wird er wahrscheinlich noch mehr auf der Liste haben», stellte Faber fest.
«Mit Sicherheit.» Ich nickte. «Vom Personal, aber garantiert auch Patienten.»
«Wir sollten diesen Seidel überprüfen», meldete sich Matthiesen. «Weiß der davon? Also, ich würd drauf wetten. Das ist doch ein Unding, dass der so was durchgehen lässt, nur weil Freiligrath mal ein großes Tier in der Wissenschaft war. Wenn du willst, kann ich mich da ransetzen.»
Ich zögerte eine Sekunde – eher aus Höflichkeit. Mit allem rund um Königslutter würde sich Albrecht selbst befassen, und ich wusste, was er von dieser Sorte Eigeninitiative hielt.
Selbst wenn sie von Klaus Matthiesen kam, bei dem das eher ungewöhnlich war.
«Wie weit bist du mit Freiligraths Finanzen?», fragte ich stattdessen.
Die Anweisung unseres Chefs hatte ich gestern Abend noch durchgegeben, zusammen mit der Bitte an Faber, sich um Mitwisser, Traumfänger-Jünger und so weiter zu kümmern.
Matthiesen betrachtete seinen Kaffee. «Noch mittendrin im Moment. Was ich zur Zeit habe, ist eine Übersicht über die Sachen, die er damals gemacht hat – also während seiner Mordserie und in den Jahren davor. Der Rest, also wie die finanzielle Situation heute aussieht, kommt nachher erst noch rein. Ich hab da jemanden beim Senator für Finanzen, der …»
«Und was
hat
er damals gemacht?», erkundigte ich mich.
«Alles», stellte Klaus Matthiesen fest. «Das meiste waren Gutachten, aber weniger fürs Gericht. Tausend Auftraggeber. Von der Bundeswehr bis zum Weingummiproduzenten.»
«Weingummi?»
«Diese Schnuller und Colaflaschen. Teufelchen gab’s auch mal. Die Farben sind natürlich wichtig, aber die Form genauso. Bestimmte Formen erwecken instinktiv Abwehr – oder Angst, von mir aus. Andere animieren automatisch zum Kauf. Wie man die am besten wählt, das lässt sich psychologisch abklären. Da gibt es Durchschnittswerte.»
Staunend schüttelte ich den Kopf. Ich würde mir nie wieder ein Gummibärchen in den Mund schieben, ohne daran zu denken, dass das Bärchendesign womöglich mit Max Freiligrath abgestimmt worden war.
«Aber so was waren wohl meist Einzelaufträge», fügte Matthiesen hinzu. «Eine Menge Projekte hat er für staatliche Stellen gemacht, Universitäten. Das ist wohl auch üblich in diesem Beruf. Für die Bundeswehr kann man’s auch ganz gut verstehen, da ging es um die
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