Ich bin der Herr deiner Angst
«Er ist auf dem Weg hierher, nach Harburg.»
«Richtig.» Albrecht stieß die Luft aus. «Gut gemacht. Irmtraud hat Vorrang. Doch ich glaube nicht, dass wir eine Chance haben, sie zu finden.
Einiges spricht jetzt dafür, dass wir unter den Hinterbliebenen von Freiligraths Opfern nach unserem Täter suchen müssen, doch das ist ein weites Feld, und ich glaube nicht, dass er uns die Zeit lassen wird.»
Friedrichs räusperte sich. «Wie ich Horst Wolfram verstanden habe, glaubt er nicht daran, dass es unseren Täter überhaupt gibt. Seinen Worten nach ist es ausschließlich Freiligrath, der im Hintergrund die Fäden zieht. Und hat er nicht irgendwie recht? Wenn Freiligrath tatsächlich Verbindungen nach draußen hat, reicht doch eine Handvoll Helfershelfer aus, denen er nur sagen muss:
Spring!
, und sie fragen:
Wie hoch?
Einer davon geht als Catwoman los, der andere als Opa im Rollstuhl. – Oder fährt eben los im zweiten Fall.»
«Nein.» Albrecht schüttelte entschlossen den Kopf. «Wenn Sie so denken, verkennen Sie sowohl Freiligrath als auch sein Motiv. Er mag ein Irrer sein, ein sehr, sehr unangenehmer Mensch, und es ist nur verständlich, wenn gerade Horst Wolfram in ihm die Ausgeburt des Teufels sieht. Doch so simpel funktioniert dieser Mann nicht. Auf seine eigene, perverse Weise ist er ein Mann mit Prinzipien. Ein Mann mit Konsequenz. Ja, er hat getötet, direkt wie indirekt, doch er hat seine Strafe akzeptiert. Hat er jemals versucht, aus der Haft zu fliehen? Hätte das einem Mann mit seinen Fähigkeiten nicht auf irgendeine Weise möglich sein sollen? Er hat es nicht getan, weil er einen krankhaften
Stolz
auf seine Haftstrafe empfindet. Er betrachtet sie als eine Auszeichnung für seine wissenschaftliche Pioniertat – und so betrachtet er sich auch selbst: als Opfer der Wissenschaft. Eine männliche Madame Curie! Warum sollte er denjenigen, die ihn in diese Situation gebracht haben, ans Leben wollen?»
«Haben Sie nicht selbst gesagt, ihm geht es darum, Horst Wolfram in die Hände zu bekommen?»
Albrecht zögerte. «Richtig», sagte er. «Weil er die Möglichkeiten nutzt, die sich unvermutet für ihn ergeben haben.
Stellen Sie sich die Situation doch nur einmal vor: Unser Täter nimmt Kontakt mit ihm auf – wie genau das funktioniert hat, wissen wir noch nicht. Jedenfalls ist unser zukünftiger Mörder davon überzeugt, dass er Freiligrath mit seinem Vorhaben etwas Gutes tut. Der aber hört sich das an und begreift auf der Stelle, dass das ganz und gar nicht der Fall ist. Aber er hört weiter zu, denn er erkennt etwas ganz anderes: die Möglichkeiten, die sich für ihn persönlich aus der Konstellation ergeben, wenn er den Mörder gewähren lässt. Ein Menschenfreund ist er beileibe nicht, doch selbst einen Mord zu begehen oder über einen von anderer Seite geplanten Mord zu schweigen sind noch immer zweierlei Dinge. Zudem kann ich mir vorstellen, dass die ganze Sache durchaus eine Art perversen Reiz auf ihn ausgeübt hat. Jetzt aber …» Er hob die Hand, was natürlich nur Maja sehen konnte. «Jetzt aber hat er keine größeren Probleme, uns behilflich zu sein, den Täter zu stellen. Warum sollte er auch? Er empfindet keine Loyalität für ihn. Wir haben keinerlei Wissen, in welchem Verhältnis die beiden überhaupt zueinander stehen. Vermutlich kennt Freiligrath seine Identität tatsächlich nicht – sonst hätten wir Wolfram überhaupt nicht nötig. Und Wolfram spielt eine Rolle bei der Auflösung! In dieser Sache bin ich mir hundertprozentig sicher.»
Er holte Luft. «Im Übrigen bleibe ich dabei: Diese Taten tragen eindeutig
nicht
Maximilian Freiligraths Handschrift. Und überlegen Sie einmal …»
«Ich … ich geb mir Mühe.» Etwas hilflos kam es aus dem Telefon.
Albrecht biss die Zähne zusammen.
Du bist zu schnell.
Maja Werden ist Maja Werden, doch Hannah Friedrichs ist …
Hannah gehörte zu seinen fähigsten Mitarbeitern, ragte auf ihre Weise sogar aus seiner Mannschaft heraus – denen, die noch am Leben waren.
Doch die Dinge hinter den Dingen erkennen zu können war mehr als ein Handwerk oder selbst eine Wissenschaft.
Es war eine Gabe, die man besaß oder nicht besaß.
«Wenn Sie die letzten Tage Revue passieren lassen», sagte er ins Telefon, geduldiger jetzt. «Hatten wir es in diesem Fall nicht immer wieder mit Entwicklungen zu tun, bei denen der Täter gezwungen war, Situationen zu erfassen und dann spontan zu entscheiden, in einem eng begrenzten Zeitfenster?
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