Ich bin der Herr deiner Angst
eine Jörg-Albrecht-Ader. Das, was ihn ausmachte.
Doch andererseits …
Er musste an Joanna denken und, ja, an Friedrichs.
Soviel ich weiß, ist es genau das, was unser Rechtssystem von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. Bei denen landen die Leute auf dem elektrischen Stuhl. Bei uns haben sie eine Chance, ihre Schuld zu büßen. Sich zu ändern.
Eine Chance, dachte er. Böse oder nicht: Eine Chance verdient jeder Mensch.
«Maja», sagte er und suchte ihren Blick. «Sie können sich immer noch entscheiden. Ich bin mir sicher, dass das Gericht die besonderen Umstände Ihres Falls berücksichtigen würde, und …» Er holte Luft. «Ich würde für Sie aussagen.»
Sie betrachtete ihn. Ihr Blick flatterte, hatte Mühe, sich auf ihn zu richten. Tausend Gefühle in diesem Blick: Schmerz, Hass, Reue und irgendwo … irgendwo der Schimmer einer verzweifelten Hoffnung. Eine Hoffnung worauf?
Vergebung, dachte er. Erlösung.
Mit einem Mal eine ruckartige Bewegung, als ihre Gestalt sich straffte.
«Gehen Sie auf die Brücke!», zischte sie. Ein knappes Nicken zum Boden. «Nehmen Sie ihn mit!»
Diesmal zuckte er nicht. «Ich könnte mich weigern.»
«Und
ich
könnte Ihnen in den Magen schießen. – Ihnen und … diesem Mann. Glauben Sie mir, ich weiß, wo das Schmerzempfinden am stärksten ausgeprägt ist.»
Albrecht schloss die Augen.
Ja, er glaubte ihr.
Sie hatte sich entschieden, und der Hass hatte sich als stärker erwiesen als alles andere.
Es war bedeutungslos, auf wen er sich in Wahrheit richtete: auf ihn, auf ihren Vater, auf Maximilian Freiligrath – oder auf sich selbst.
Es war ihre Entscheidung, ihm auf diese Weise Ausdruck zu geben.
Albrecht ging in die Hocke. «Herr Wolfram?» Er streckte dem älteren Mann die Hand entgegen.
Wolfram rührte sich nicht.
Albrecht tastete nach dem Hals des Mannes, der Schlagader …
«Aufstehen!» Maja kam einen Schritt näher. «Lassen Sie ihn!»
Der Hauptkommissar richtete sich auf.
Für Wolfram war es das Beste so.
«Los!» Der Lauf wurde um einen Zentimeter gehoben.
Auf seinen Magen gerichtet, wie versprochen.
Jörg Albrecht nickte und drehte sich um.
Ein Durchlass in der Brüstung. Die Planke lag vor ihm, vier, fünf Meter lang. Auf der anderen Seite stand Freiligrath, der irgendetwas sagte.
Albrecht hörte nicht hin.
In der Tiefe donnerte die Flut.
Ich sollte Angst haben, dachte er.
Ist es nicht seltsam, dass ich nichts fühle als ein leichtes Bedauern?
Wenn es einen Sinn hätte, dachte er. Für David Martenberg hätte es einen Sinn gehabt.
Doch so …
Er hob den Fuß.
Und mit einem Mal war sie doch da: die Angst.
Die brodelnde, gierige Tiefe unter ihm. Das Wasser.
Ver
dammt!
Friedrichs war da! Er wusste, dass sie da war!
Doch sie hatte keine Waffe.
Was sollte sie tun? Was
konnte
sie ohne Waffe tun?
Es gelang ihm nicht, sich eine Lösung auszumalen, beim besten Willen nicht.
Er konnte nicht … Nein, er konnte nur eins tun:
Vertrauen, dachte er.
Nichts auf der Welt hätte schwerer sein können.
Wir alle haben die Wahl, dachte er, und gegen seinen Willen verzogen sich seine Mundwinkel.
Einem wird sie leichter gemacht, diese Wahl, dem anderen schwerer, aber
wir haben die Wahl
!
Und bei jedem von uns sieht sie anders aus.
Vertrauen wir.
Er setzte den Fuß auf die Planke.
Standing on a beach with a gun in my hand
Hart und blechern tönte es, ein dumpfer Hall in der Kuppel.
Staring at sea, staring at the sand
Albrecht fuhr herum.
Maja Werden war für eine Sekunde abgelenkt.
Albrecht warf sich auf sie, griff nach ihrem Arm, bekam ihn zu fassen, glitt ab.
Ein Schuss. Schreie.
Maja Werden stieß ihn von sich. Er stolperte zurück. Die Tiefe, die Tiefe unter ihm.
Etwas, das seinen Kopf traf und –
Dunkelheit.
***
Ich sah sie.
Von weitem. Aus der Distanz.
Ich konnte mich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang, aber hatte Jörg Albrecht nicht irgendwas erzählt, dass man die Wahrheit eigentlich nur auf diese Weise erfassen kann: aus der Ferne? Als Unbeteiligter?
Ganz unbeteiligt war ich nun nicht.
Der Klassiker wäre ein Stein gewesen, den man irgendwo möglichst weit weg gegen die Wand wirft. Der älteste Trick der Welt.
Leider hatte ich gerade keinen zur Hand.
Und – on a
beach
with a
gun
, mit der
Pistole
am
Ufer
– es passte einfach perfekt zur Situation.
Jedenfalls war ich immer noch nah genug dran, um mitzukriegen, was passierte.
Mein Handy segelte durch die Luft. Der Sound des Klingeltons
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