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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Antwort zu warten.
    Jörg Albrecht schwankte.
    Die plötzliche Hilflosigkeit der jungen Frau war unübersehbar.
    Ihm war klar, dass er sich nur äußerst unvollkommene Vorstellung von dem machen konnte, was man in den Freiligrath-Neverdingschen Anstalten mit den Kindern angestellt hatte.
    Es war eine jener Situationen, über die Joanna und er sich nächtelang Streitgespräche geliefert hätten. Joanna hätte sein Mitleid eingefordert – ultimativ –, und Jörg Albrecht hätte widersprochen.
    Er musste an den Dialog mit Maja denken, heute Morgen, auf der Fahrt zum Bahnhof. Die junge Frau hatte darauf bestanden, dass es böse Menschen nicht gäbe.
    Keine Schuld. Einzig Kausalitäten, Abfolgen von Ursache und Wirkung.
    Sie hatte unrecht.
    Maja Werden war nicht mehr das Kind, das der Willkür von Freiligraths Helfershelfern ausgeliefert war. Sie war eine Frau von Ende zwanzig. Sie hatte ein Studium hinter sich, bei Hartmut Möllhaus, den Albrecht nach seiner allzu kurzen Bekanntschaft mit dem Professor als einen Mann einschätzte, der ein Auge darauf hatte, dass seine Studenten sich mit Fragen von Ethik, Moral und Gewissen auseinandersetzten.
    Möglich, dass es die junge Frau erschüttert hatte, als Max Freiligrath im Augenblick ihres scheinbaren Sieges das gesamte Ausmaß der Manipulation ganz trocken eingestanden hatte. Möglich, dass es ihr schlicht nicht klar gewesen war.
    Doch das machte keinen Unterschied.
    Wenn es überhaupt einen Unterschied gab, etwas, das Jörg Albrechts Antwort beeinflussen konnte, dann waren es die Folgen der einen oder anderen Erwiderung.
    Sie würde ihn töten. Alles lief darauf hinaus, dass sie ihn und Horst Wolfram töten würde, ganz gleich, was er antwortete.
    Aber vielleicht gab es ja doch noch eine Chance. Eine Möglichkeit, Maja Werden nach dem Mund zu reden? Und Freiligrath? Er hatte sich vorgenommen, den Psychologen nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, doch war es nicht möglich, dass er noch immer Macht über Maja besaß?
    Beiden zugleich also? Wenn sie das Gefühl bekamen, tatsächlich auf ganzer Linie gesiegt zu haben? Albrecht war sich sicher, dass zumindest dem Traumfänger dieser Triumph mehr bedeuten würde als die Leiche des Hauptkommissars am Grunde einer alten Klosterzisterne.
    Und doch. Die Wahrheit.
    Jörg Albrecht hatte keine Wahl.
    Mir selbst, dachte er, bin ich die Wahrheit schuldig.
    «Wissen Sie …» Er fuhr sich über die Lippen. «Wissen Sie, warum ich Psychologen verabscheue?»
    Wenn er geglaubt hatte, im wirren Blick der Frau eine Reaktion hervorzurufen, hatte er sich getäuscht. Nur Freiligrath, auf seiner Seite des Abgrunds, hob die Augenbrauen.
    «Wahrheit», erklärte Jörg Albrecht. «Was die Wahrheit ist, das versuche ich seit dreiundzwanzig Jahren herauszufinden – und länger. Immer wieder aufs Neue. Man ruft mich in eine leere Wohnung, und dort liegt der Körper einer Frau, die Kehle mit einem Messer durchgeschnitten.
    Ich weiß, dass irgendjemand dieses Messer geführt haben muss, und meine Aufgabe besteht nun darin, herauszufinden, wessen Hand das gewesen ist.
    Bisher …» Er zögerte. «Bisher ist mir das jedes Mal gelungen, und selten sieht das Ergebnis am Ende einer solchen Ermittlung so aus, dass man Freudensprünge machen möchte. Es kann sein, dass diese Frau ein Martyrium hinter sich hat. Dass ihr eigener Ehemann sie jahrelang geschlagen, geschändet, ihr unaussprechliches Leid zugefügt hat, bis es hier, auf dem Fußboden dieser leeren Wohnung, schließlich geendet hat.
    Eine bittere Wahrheit – aber eine Wahrheit. Ein Ermittlungsergebnis, das ich dem Gericht übergeben kann.»
    Maja rührte sich nicht.
    «Und dann kommen die Gutachter», fuhr er fort. «Die Psychologen. Und sie fangen an, das Leben sämtlicher Beteiligter umzukrempeln wie eine alte Socke. Das Opfer. Der Täter. Der gesamte Bekanntenkreis. Es wird nicht in Frage gestellt, wessen Hand es war, die das Messer führte, nein. Stattdessen sucht man nach
Erklärungen
.
    Irgendjemand kommt auf die Idee, sich die Kindergartenzeit unseres Täters vorzunehmen, und stellt dabei fest, dass ihm die anderen Kinder immer die Bauklötze weggenommen haben. Wenn man es recht überlegt, mit dieser frühkindlichen Prägung – ist unser Täter nicht in Wahrheit ein Opfer?
    Oder aber Ihre Kollegen finden genau das Gegenteil heraus: Unser Täter war es, der sich schon in der Krabbelgruppe die Legosteine der anderen Kinder unter den Nagel gerissen hat. Ist die Kindergärtnerin

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