Ich bin der Herr deiner Angst
Sachsenwald, die Lichter kaum noch zu erkennen.
Eine Taschenlampe flammte auf. Faber leuchtete einmal in die Runde. Ein Stück rechts von uns gab es einen Weg.
Inzwischen waren auch die beiden Einsatzwagen eingetroffen. Die uniformierten Beamten schlossen sich an, als wir eilig in das dunkle Gelände abseits der Allee vordrangen.
Die Nacht war nicht still. Der letzte Regen tröpfelte von den Bäumen, überall raschelte es. Vögel, vielleicht auch größere Tiere. Dennis hatte mal behauptet, auf dem Ohlsdorfer Friedhof gäbe es sogar Wildschweine. Ich war mir bis heute nicht sicher, ob er mich nur auf den Arm genommen hatte.
«Das ist unmöglich!», brummte der Chef. «Das sind mehrere Kilometer von hier – zu
beiden
Häusern. Ebert ist schwanger! Was im Leben soll sie hier draußen …»
Eine gute Frage, dachte ich. Und mir wollte keine Antwort einfallen. Jedenfalls keine, die mir gefiel.
Was hätte eine hochschwangere Frau am entgegengesetzten Ende des Friedhofs verloren gehabt? Ihre Eltern waren auf der Anlage beigesetzt, aber in einer völlig anderen Ecke. Ich war auf der Beerdigung des Vaters gewesen. Und Kerstin war nicht zum Friedhof unterwegs gewesen, sondern zu Sabine Hartung, zwei Häuserblocks von ihrem Haus!
Vor viereinhalb Stunden.
Was, wenn Margit Stahmkes Abendausflug gar nichts mit Kerstin zu tun hatte? Irgendeine andere nachtfinstere Story, die sie vor ihren Zuschauern auspacken wollte?
Doch das schien eher unwahrscheinlich. Wenn unser Herr und Meister in der rechten Stimmung war, hieß die Stahmke bei ihm nur
die Zecke
. Wo diese Frau sich mal festgebissen hatte, ließ sie so schnell nicht wieder los.
Und so oder so: Eine Geschichte, für die ein Team von Kanal Neun nach Einbruch der Dunkelheit den Friedhof heimsuchte, ging mit Sicherheit auch uns was an.
Schließlich waren wir die Kripo.
«Da drüben!»
Wer hatte gesprochen? Oliver jedenfalls nicht. Kerstins Mann hielt sich eng an meiner Seite, sagte kein Wort. Doch ich spürte, dass er meine Nähe suchte, wie ein kleines Kind, das in diesem Moment eine vertraute Person brauchte. Ein kleines Kind – Raoul. Meine Kehle war rau, als ich schlucken musste.
Woher kam diese Ahnung, dass wir im Begriff waren, etwas Schreckliches zu entdecken?
Die Lichter waren nun direkt vor uns. Sie bewegten sich nicht mehr. Ein Spot schnitt einen Streifen Helligkeit aus der Nacht, beleuchtete mehrere Reihen eher durchschnittlicher – und nicht sonderlich gepflegter – Grabsteine. Und Margit Stahmke, die mit ihrem Mikrophon zwischen den Marmormonumenten balancierte. Über ihrem Edelkostüm trug sie einen Trenchcoat.
«Eine schlimme Ahnung ist zur Gewissheit geworden.» Ihre Stimme tönte über die Lichtung. «Hamburg befindet sich heute Abend im Schockzustand.»
Du wiederholst dich, altes Mädchen, dachte ich, doch gleichzeitig wurden meine Schritte schneller. Oliver keuchte plötzlich auf und stolperte vorwärts.
Stahmke sah konzentriert in das Licht. Sie hatte keine Chance: Von uns bekam sie nichts mit.
«Nachdem am Morgen in einem zwielichtigen Club nahe der Reeperbahn bereits der grausam geschändete Körper eines einundsechzigjährigen Kripobeamten aufgefunden wurde, stehen wir heute Abend nun hier, auf dem altehrwürdigen Ohlsdorfer Friedhof …»
Weiter kam sie nicht. Oliver hechtete zwischen den Steinen hindurch, Albrecht versuchte ihm zu folgen. Ich selbst konnte nichts erkennen, sie waren im Weg. Lehmann, Faber … Irgendjemand stieß gegen den Kameramann. Der Lichtkegel kippte, veränderte sich und fiel auf ein Lumpenbündel, das ein paar Schritte neben Stahmke auf dem Boden …
Mein Herz blieb stehen. Ich selbst blieb stehen, festgefroren auf einer Lichtung mitten auf dem Ohlsdorfer Friedhof.
Ich stierte auf das Gewirr von Lumpen, das der Scheinwerfer jetzt mitleidlos erhellte. Lumpen und … rohes, blutiges offenes Fleisch. Der Geruch, der
Gestank
, warum hatte ich ihn bis zu diesem Moment nicht wahrgenommen?
Das kann sie nicht sein! Ein irrsinniger Gedanke. Das kann sie unmöglich sein! Was so stinkt, muss schon seit Tagen tot sein!
Und doch wusste ich, wie auch immer das möglich sein sollte, dass diese Ansammlung unförmig schwärenden, toten Fleisches Kerstin war. Meine Freundin Kerstin. Kripokommissarin Kerstin Ebert.
Um Margit Stahmke war eine Art Ringkampf ausgebrochen. Oliver versuchte zu der Leiche vorzudringen, Lehmann und Faber hielten ihn fest. Albrecht versuchte, der Journalistin das Mikrophon
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