Ich bin der Herr deiner Angst
Meine Kehle wurde eng. Unsere Toten, in mehr als einer Beziehung.
Es war so unvorstellbar, dass Ole Hartung und Kerstin jetzt nicht hier mit uns im Raum saßen. Dass sie nie wieder hier sitzen würden. Dass Kerstin nicht in ein paar Monaten von dem neuen Baby schwärmen würde, wie sie das bei Raoul getan hatte.
Dennis war heute zu Hause geblieben und hatte versprochen, zu Oliver Ebert zu fahren, damit er einen Menschen zum Reden hatte. Doch ob Oliver heute an ihr Segelboot …
Mary.
So hatten sie das Boot getauft. Oliver war für
Sophie
gewesen, doch da hatte sich Kerstin auf die Hinterbeine gestellt. Falls das Baby nämlich ein Mädchen …
Plötzlich war mir schrecklich übel.
«Wir kriegen dieses Schwein!»
Einen Moment lang konnte ich die Stimme nicht einordnen.
Dann begriff ich, dass es meine eigene war.
Albrecht sah mich an. Eine Sekunde lang glomm etwas in seinen Augen auf, ein geheimes Einverständnis. Doch im nächsten Moment wirkte er einfach nur müde.
«Das werden wir», sagte er. «Doch zuerst einmal müssen wir feststellen, an welchem Punkt wir stehen. Stahmke wäre eine vage Hoffnung gewesen, doch wahrscheinlich hätte sie sich auf dieselbe Weise rausgeredet wie beim letzten Mal: anonymer Hinweis, Informantenschutz. Über Eberts Leiche kann jeder gestolpert sein. Das ist nicht zwingend Täterwissen.»
«Aber wenn sie den Mund aufgemacht hätte, hätte sie sich sofort entlasten können», gab ich zu bedenken.
Albrecht verzog das Gesicht. «Hatte sie das nötig, wenn dieser Schnösel für sie arbeitet?»
Ich biss die Zähne zusammen.
«Im Grunde kennen wir sämtliche Antworten.» Er sah zum Fenster. Dasselbe Grau in Grau wie gestern, heute ohne Regen bisher.
«Dann müssen sie mir gerade entfallen sein», murmelte Faber.
Unser Herr und Meister nickte. «Nach Sokrates sind Frage und Antwort untrennbar miteinander verbunden. In dem Moment, in dem wir eine Frage formulieren können, kennen wir auch die Antwort. – Möglich, dass wir sie vergessen haben, aber viel wahrscheinlicher ist, dass wir schlicht die falschen Fragen stellen. Wenn wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen, klären wir den Fall. Wer ist der Täter und warum handelt er? Wer und was ist in Wahrheit sein Ziel?»
Er brach ab, als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass er mehr gesagt hatte, als er eigentlich hatte sagen wollen.
«Haben wir von Euler einen Bericht über den Friedhof?», fragte er stattdessen.
Faber schüttelte den Kopf. «Er hat sich noch nicht gemeldet.»
Albrecht nickte. «Euler arbeitet sorgfältig.»
So konnte man es auch ausdrücken. Aber Albrechts Zweckoptimismus in allen Ehren: Hatte der Mann keinen Fernseher? Selbst wenn er keinen hatte, konnte ihm der Presseauftrieb unter dem Bürofenster wohl kaum entgangen sein.
«Was machen Sie mit der Polizeipräsidentin?», fragte ich.
«Wegen der Atomgeschichte?» Er winkte ab. «Gehen Sie einem Menschen aus dem Weg, der frisch aus dem Röntgenlabor kommt? Isolde Lorentz ist nicht dumm. Wenn sie ein, zwei Experten auftut, die den Leuten einigermaßen einleuchtend erklären, dass wir zwar mit einem grauenhaften Verbrechen konfrontiert sind, die Strahlung aber für die Allgemeinheit ungefährlich ist, ist die Sache morgen aus den Nachrichten raus.»
Damit sollte er recht behalten, was allerdings zu diesem Zeitpunkt niemand von uns ahnen konnte. Und selbst ein Jörg Albrecht hätte wohl kaum Wert darauf gelegt, unter
solchen
Umständen recht zu behalten.
«Und wegen der Stahmke-Geschichte?», hakte ich nach.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. «Keine Sorge», brummte er. «Ich bleibe Ihnen erhalten. Zumindest bis dieser Fall abgeschlossen ist. Isolde Lorentz ist wirklich nicht dumm.»
Ich schluckte. Den letzten Gedanken brauchte er nicht auszusprechen. Falls in den kommenden Tagen noch der eine oder andere von uns das Zeitliche segnen sollte, würde unsere verehrte Dienstherrin der Öffentlichkeit einen Schuldigen präsentieren müssen.
Das konnte entweder der Täter sein – oder der Mann, der gerade vor uns stand.
Er sah von einem zum anderen. «Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Fall aufzuklären. Alles andere ist unwichtig.
Niemand
wird mich von etwas anderem überzeugen. Und wir werden …»
«Wir haben was!»
Ich zuckte zusammen. Nils Lehmann stand im Türrahmen. «Ein Anruf, aber nicht von der Presse! Eine Zeugin! Eine Frau, die Kerstin auf dem Friedhof gesehen hat!»
***
Zeit, dachte Jörg Albrecht. Ich brauche Zeit.
Ein
Weitere Kostenlose Bücher