Ich bin der Herr deiner Angst
Phantombild?»
«Genau», bestätigte Albrecht. Das war das gängige Prozedere.
Doch zumindest in diesem Punkt war er sich sicher, dass Friedrichs und er die Sache ähnlich sahen. Das Bild des alten Mannes im Rollstuhl würde genauso wenig erkennbare Konturen annehmen wie die Frau mit der Catwoman-Maske im
Fleurs du Mal
.
Er bedankte sich noch einmal und stand auf. Auf dem Weg zur Tür fiel sein Blick auf ein kleines gerahmtes Bild direkt neben dem Durchgang, das er beim Eintreten nicht hatte sehen können. Eine gezeichnete Gestalt: ein Mann mit einem roten Mantel über den Schultern, der mit der rechten Hand einen Stab in die Höhe streckte. Vor ihm stand ein Kelch, über seinem Kopf schwebte eine liegende Acht.
«Der Magier», sagte die Frau in seinem Rücken leise. «Die Karte eins des Tarot.»
«Tarot.» Der Hauptkommissar betrachtete das Bild.
Außergewöhnliche Instinkte, dachte er. Interessant, wozu sie sich nutzen ließen.
«Ich habe lange nicht …» Müller schüttelte den Kopf. «Aber ich mag diese Karte. Sie zeigt, dass alle Wege offen sind.
Alles
ist möglich.»
Er nickte langsam. «Ich verstehe. Ja, Sie haben recht. – Vielen Dank, Frau Müller, Sie haben uns sehr geholfen.»
***
Wer eine Weile mit unserem Herrn und Meister gearbeitet hatte, gewöhnte sich eigentlich recht schnell ab, sich über ihn zu wundern.
Mit ist klar, dass das etwas sonderbar klingt, nachdem ich so viel über ihn erzähle.
Tatsache ist jedenfalls, dass man sich bei Jörg Albrecht felsenfest darauf verlassen konnte, dass man sich bei ihm auf
nichts
verlassen konnte.
Die Begegnung mit der Kartenlegerin hatte mir das wieder gezeigt.
Albrecht war der akribischste, analytischste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt hatte. Dieser Blick für Details, für winzigste Spuren, die kein normaler Mensch überhaupt als Spuren wahrgenommen hätte, das war schon beinahe unheimlich.
Doch in Wahrheit war dieses Vorgehen eben etwas völlig anderes: Es war eine Wissenschaft. Dimensionen der Kriminalistik, bei denen ich mir im Nachhinein vielleicht manchmal dachte: Hey, da hättest du jetzt auch hintersteigen können, wenn deine kleinen grauen Zellen mal ein bisschen schneller gearbeitet hätten. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, musste mir klar sein, dass mein Kommissarinnensachverstand eben einfach seine Grenzen hatte.
Und was soll’s: Ein Ermittlergenie pro Abteilung reichte schließlich aus.
Trotzdem war diese Sache mit der Hokuspokus-Tante selbst für Jörg Albrechts Verhältnisse einigermaßen gruselig gewesen.
Während ich neben ihm auf diesem Sofa gesessen hatte, hatte ich mich zeitweise ernsthaft gefragt, ob er da womöglich gerade irgendwelche magischen Schwingungen empfing.
Jedenfalls hatte er in dieser Müller irgendwas gesehen, das ich ganz eindeutig nicht sehen konnte. Und was ihre rührselige Geschichte mit der schwangeren Frau und dem einsamen Opi anbetraf …
Standing on a beach with a gun in my hand
Staring at the sea, staring at the sand
Diesmal saß Albrecht am Steuer. Bevor er eine Bemerkung zu meinem Klingelton loslassen konnte, hatte ich die Rufannahme gedrückt.
«Ja?»
«Halten Sie sich fest!» Martin Euler.
Natürlich hielt ich mich fest. Schließlich saß Albrecht auf dem Fahrersitz.
«Kerstin Ebert ist nicht am Grab von Gustav Hertz gestorben», kam es aus dem Handy.
Überrascht hob ich die Augenbrauen. Sie hatte grausam entstellt ausgesehen, aber gleichzeitig auf eine schwer zu beschreibende Weise friedlich … Ich hatte darum gekämpft, mir vorzustellen, wie sie nach all der Angst und Panik, die sie gespürt haben musste, als sie erkannte, was mit ihr und dem Kind passierte, am Ende einfach aufgegeben hatte. Dass sie trotz allem friedlich eingeschlafen war.
«Wir glauben, dass wir die Stelle sogar schon gefunden haben, an der er sie getötet hat.»
Wieder
er
. Dabei konnte Martin Euler noch gar nichts wissen von dem Opa.
Per Bluetooth war das Handy mit der Freisprechanlage verbunden. Albrecht hatte die Augen geradeaus, doch er hörte sehr genau zu.
«Ein Mausoleum», erklärte Euler. «Gar nicht weit von dem Eingang, durch den man von Kerstin Eberts Wohnviertel aus auf den Friedhof kommt. Die Toten sind in Bleisärgen beigesetzt worden. Blei ist nach wie vor der zuverlässigste Schutz gegen nukleare Strahlung. Wenn wir uns vorstellen, dass der Täter dieses Mausoleum kannte … Die Schlussfolgerungen sind natürlich Ihre Sache, doch …»
«Es hat geregnet», murmelte ich.
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