Ich bin der Herr deiner Angst
ein Schuldspruch, dachte er.
Aber einer auf Bewährung.
«Das …» Er strich sich über die Hose. «Das war es dann?»
Sie antwortete nicht. Albrecht glaubte das als Zeichen interpretieren zu können, dass das Gespräch beendet war. Er stand auf.
«Sokrates», sagte sie.
Der Hauptkommissar war schon fast an der Tür.
«Ja?»
«Sokrates ist der Meinung, dass wir eine Frage nur dann formulieren können, wenn wir die Antwort schon kennen, richtig?»
Das war außerordentlich verkürzt ausgedrückt, doch Albrecht nickte.
«Noch so ein Zusammenstoß mit der Stahmke: Haben Sie sich schon mal gefragt, was dann mit Ihrem Dienstausweis passiert?»
Ihr Blick ging in die unergründlichen Tiefen ihrer Schreibtischschublade.
***
Es war das dritte Mal innerhalb von sechsunddreißig Stunden, dass ich in das Wohngebiet an der Wellingsbütteler Landstraße einbog.
Beim ersten Mal hatte ich einen Knoten im Magen gehabt, und für Sabine Hartung eine Todesnachricht, die sie bereits aus dem Frühstücksfernsehen kannte.
Beim zweiten Mal war mir geradezu übel gewesen. Völlig unvorhersehbar, wie sie reagieren würde, wenn ich schon wieder vor der Tür stand.
Diesmal hätte ich kotzen können.
Ich hatte diese Fahrt so lange wie möglich vor mir hergeschoben, hatte dafür aber auch durchaus meine Gründe gehabt: Eine Besorgung, die sich jetzt in dem aktenkoffergroßen Lederding befand, das regelmäßig für große Augen sorgte, wenn ich es als meine Handtasche vorstellte.
Eine vertretbare Verzögerung? Das würde sich zeigen. Wenn ich ehrlich war: Wirklich verantworten konnte ich nicht eine Minute Verzögerung.
In genau diesem Augenblick konnte im
Fleurs du Mal
ein nachtschwarzer Schatten hinter Nils Lehmann aufwachsen. Oder Marco Winterfeldt bekam 20000 Volt verpasst, sobald er einen seiner Rechner hochfuhr. Oder der alte Hansen, noch immer im Krankenhaus, kriegte mit der nächsten Infusion statt Blutplasma Batteriesäure verabreicht.
Jeder von uns war in Gefahr, jede einzelne Sekunde.
Auch ich selbst. Auf der Fahrt hierher hatte ich die Augen mehr im Rückspiegel gehabt als auf der Straße vor mir.
Er hat schon gewonnen, dachte ich. Wir sind eingeschüchtert. Im Rudel fühlen wir uns vielleicht noch sicher, aber sobald wir allein sind, kommt die Angst.
Und wer Angst hat, macht Fehler.
Automatisch bog ich zunächst zwei Straßen früher ab und fuhr langsam am Haus der Hartungs vorbei. Eines unserer Einsatzfahrzeuge parkte mit zwei Reifen auf dem Bürgersteig. Ich nickte den beiden Beamten zu, war mir aber nicht sicher, ob sie mich erkannten.
Die Presse war nirgends zu sehen. Sollte der Medienhype etwa schon vorbei sein?
Kein Stück. Das wurde mir zwei Ecken weiter klar.
Die Logos von sechs, nein, sieben unterschiedlichen Sendeanstalten. Einige von ihnen grüßten nur von ihren Kombis und Sendewagen, doch Kanal Sieben hatte einen halben Jahrmarktstand aufgebaut. Wahrscheinlich verteilten sie auch noch billige Kulis und Luftballons; jedenfalls drängelte sich die Jugend des Viertels vor den Tischen, und einer der Journalisten hatte offenbar keine Skrupel, diese Kinder zu interviewen.
Ich brachte den Wagen zum Stehen und warf die Tür so hart ins Schloss, dass es klang wie ein Pistolenschuss. Die Pressemenschen nahmen nicht mal Notiz davon.
Das taten sie erst, als einer von ihnen mich erkannte, aber da war ich schon außer Reichweite.
Ein halbes Dutzend meiner uniformierten Kollegen hielt die Stellung vor dem Grundstück der Eberts.
«Seit wann sind die wieder hier?», brummte ich und nickte zu den Aufnahmewagen, während ich den Beamten meinen Ausweis hinhielt.
«Seit heute früh.» Der Kollege hob die Schultern. «Was sollen wir machen? Die Leiche ist gefunden. Für Platzverweise gibt’s keinen Grund mehr.»
Von dem Gesicht des Mannes war nicht viel zu sehen hinter Uniformmütze, Schnauzbart und Brille. Eine Tarnung, auf die noch nicht mal unser schemenhafter Gegner gekommen war. Oder vielleicht doch? Bei wem konnte ich mir noch wirklich sicher sein?
Luftholen, Friedrichs! Bring das Gespräch in dem Haus da vorne hinter dich und fahr dann ganz locker zum Revier zurück. Mehr verlangt kein Mensch von dir.
Doch das war schon schlimm genug.
Ich schob das Gartentor auf, ging den mit unsymmetrischen Granitsteinen gepflasterten Weg entlang.
Wamm! – Wamm!
Ich blieb stehen. Ein warnendes Prickeln lief durch meinen Rücken. Kein Mensch war zu sehen.
«Was ist das für ein Geräusch?», murmelte ich
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