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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Zur Abwechslung war es mal nicht das Herz gewesen, sondern ein Rückstau des Urins in den Nieren. Der Hintergrund wurde erst angesichts seiner Krankenakte deutlich:
Paruresis
, krankhafte Angst, in der Öffentlichkeit zu pinkeln.
    Unter normalen Umständen wären alle diese Geschehnisse schlicht ein Fall für die Abteilung Vermischtes & Bizarres gewesen, doch da war zum einen die Häufung, in der die Meldungen in diesen Wochen einliefen, zum anderen aber die vollständige Unfähigkeit der Angehörigen, zu erklären, warum sich die Verstorbenen ausgerechnet jener Situation ausgesetzt haben sollten, die sie gefürchtet hatten wie nichts anderes auf der Welt.
    In den meisten Fällen war es eindeutig, dass sie das nicht freiwillig getan hatten.
    Persönliche Albträume von Menschen wurden Wirklichkeit – die Legende vom Traumfänger war geboren.
    Für das PK Königstraße war das natürlich kein Fall wie jeder andere. Ole Hartung oder der alte Hansen – und Kerstin, die während der Ermittlungen zum Team stieß – wollten später trotzdem niemals groß über diese Zeit sprechen. Zu gespenstisch muss die Atmosphäre gewesen sein. Die Frage, ob es überhaupt einen Täter gab, ließ sich nicht in allen Fällen so einfach beantworten wie bei dem Mann mit der Sonnenangst, der am Ende einer Hitzewelle halb verkohlt an einem abgelegenen Strandabschnitt der Elbe gefunden wurde – mit Fesseln an den Buhnen fixiert.
    Horst Wolfram, seit mehr als zehn Jahren Leiter des Kommissariats, hatte sich jedenfalls auf eine Weise in den Fall vergraben, die selbst schon nicht mehr gesund war.
    Ich hatte mir schon immer vorgestellt, dass er eine Menge Ähnlichkeit mit Jörg Albrecht gehabt haben muss. Vielleicht ist die Leitung unseres Kommissariats einfach ein Job, der solche Leute anzieht. Auch bei Wolfram hat natürlich die Familie darunter gelitten – entsprechend hätte er ein warnendes Beispiel für unseren Herrn und Meister sein müssen. Fast schon zwangsläufig dürfte aber exakt das Gegenteil eingetreten sein: Wahrscheinlich genau deswegen hatte Jörg Albrecht alles, was mit Horst Wolfram zusammenhing, vollständig ausgeblendet.
    Und damit auch den Traumfänger.
    Um es kurz zu machen: Das Duell zwischen Wolfram und dem Täter hat sich wochenlang hochgeschaukelt. Wolfram hat wohl ziemlich früh Psychologen und Psychiater auf dem Schirm gehabt. Schließlich war das eindeutig ein verbindendes Element: Sämtliche Toten hatten unter einer krankhaften Angst gelitten, und die meisten von ihnen waren in entsprechender Behandlung gewesen. Doch personelle Überschneidungen ließen sich höchstens in Einzelfällen feststellen, und selbstverständlich wurden die Therapeuten auf Herz und Nieren geprüft.
    Wolfram muss schließlich einem lebenden Leichnam geglichen haben. Seine Familie – Frau und kleine Tochter – bekam ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Er begann auf dem Revier zu schlafen, in dem Raum, in dem wir jetzt zusammensaßen, Jörg Albrechts heutigem Büro. Wenn er überhaupt schlief. Doch er war davon überzeugt, dass er dem Täter immer näher kam. Kerstin Ebert meinte einmal zu mir, er hätte etwas in dem Sinne gemurmelt, der Mann
wolle
im Grunde gefasst werden. Ein Bild, das bei Serientätern gar nicht so untypisch ist.
    Und vielleicht entsprach es auch diesmal der Wahrheit.
    Ich kann mich nicht genau erinnern, was Wolfram schließlich auf die Spur von Max Freiligrath geführt hat. Freiligrath galt als Koryphäe in diversen Psychowissenschaften, hatte sich aber als Therapeut kaum hervorgetan. Ein Wissenschaftler in der Studierstube, mit Preisen und hoch dotierten Forschungsaufträgen überhäuft.
    Genauso wenig weiß ich, warum sich Wolfram zuletzt so sehr auf den Hafen eingeschossen hat. Vielleicht weil die Angst vor dem Wasser, vor dem Ertrinken so ziemlich das Einzige war, das nach sechzehn oder siebzehn Toten noch übrig blieb.
    Wie es endete, draußen auf der Nordsee, als Wolfram auf einem Kutter der Küstenwache Freiligraths Boot einholte … Wie er begriff, dass der Täter eine Geisel hatte – und dass diese Geisel die kleine Lena war, seine, Wolframs, eigene Tochter …
    Ich weiß nicht, ob das Mädchen schon immer besondere Angst vor dem Wasser gehabt hatte.
    Aber es ist keine Frage, wessen Angst bei der letzten Tat des Traumfängers tatsächlich im Mittelpunkt stand.
    Wolfram hatte viel zu spät begriffen, was seine eigene größte Angst war.
    Vielleicht wirklich erst in dem Moment, in dem das Mädchen

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