Ich bin der Herr deiner Angst
mit dem ablaufenden Wasser hinaus in die offene See gerissen wurde.
Nein, ich denke, im Rückblick ist es nur allzu verständlich, dass niemand, der damals mit diesem Fall zu tun hatte, später viel darüber reden wollte.
Der Täter war gefasst – und er war ohne Zögern geständig, mitsamt allen grausigen Details, wie er seine Patienten darauf eingeschworen hatte, niemandem, auch den engsten Angehörigen nicht, davon zu erzählen, dass sie sich bei ihm in Therapie befanden. Das könne alle Mühen zunichtemachen.
Wie hätten sie ahnen können, worauf diese Mühen in Wahrheit abzielten?
Am Ende hatte Max Freiligrath die Höchststrafe bekommen, obwohl durchaus Uneinigkeit herrschte, ob der Mann im klassischen Sinne zurechnungsfähig war. Vermutlich war das Gericht schlicht und einfach genauso erschüttert wie der Rest der Bevölkerung.
Doch wenn ich jetzt, in Jörg Albrechts Büro, als Irmtraud Wegner uns die wichtigsten Details noch einmal in Erinnerung rief … Wenn ich jetzt noch einmal überlegte, war es vielleicht gar nicht der Täter, der am Ende die schlimmste Strafe erhalten hatte, sondern sein letztes Opfer.
Horst Wolfram, das einzige Opfer des Traumfängers, das überlebt hatte.
Ein Gespenst, ein Untoter. Während die Therapeuten in der Rehabilitationsklinik darum kämpften, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen, und nicht wahrhaben wollten, dass ein Mensch eine Phobie gegen Psychotherapeuten entwickeln konnte, nahm sich seine Frau das Leben.
Natürlich war es kein Thema, dass er seinen Beruf je wieder würde aufnehmen können.
Und so, nachdem Ole Hartung dankend abgewinkt hatte, war die Stelle des Leiters von PK Königstraße extern besetzt worden und unser Herr und Meister war auf den Stuhl gekommen, auf dem er heute noch saß.
Auch jetzt, in diesem Moment, als Irmtraud Wegner fertig war mit der Geschichte, die wir nur zu gut kannten.
Und als ich ihn ansah, wusste ich, dass die Dämonen in seinem Kopf erwacht waren.
***
Er hatte es gewusst.
Nein.
Heiner Schultz
hatte es gewusst.
Die falschen Fragen.
Hindernisse im Raum der Ermittlung, die verhinderten, dass sich die Fäden zwischen den einzelnen Tatbeständen in einer geraden Linie spannen ließen, an der Jörg Albrecht hätte entlangpeilen können. Auf das Ziel hin, auf den Täter und seine Motivation.
Hindernisse, die sich seinem Blick entzogen, weil sie unsichtbar waren und transparent wie …
Wasser.
Das Dröhnen und Brüllen der Strömung, die David Martenbergs Körper mit sich reißt, während Jörg Albrecht sich in die Wurzeln klammert und die anderen Mitglieder der Spinnenbande hilflos am Ufer stehen.
Ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, das bei ablaufender Flut in das tobende Wasser der offenen Nordsee gestoßen wird.
Ein Kind. Das Schlimmste, was Eltern geschehen kann: dass ihr Kind vor ihnen stirbt.
Für Jörg Albrecht hatte Lena Wolfram immer Claras Gesicht getragen.
Es war die Grenze, die unsichtbare Mauer zwischen der Arbeit auf der Dienststelle und dem Leben des Ehemanns und Familienvaters. Die entscheidende Distanz, die zwei Welten voneinander trennte.
Sie war durchbrochen worden. Im Leben seines unmittelbaren Vorgängers war diese Mauer gnadenlos niedergewalzt geworden, und das war etwas, das er unter keinen Umständen akzeptieren konnte.
Die Dinge, so wie sie sind.
Es gab Dinge, die
nicht sein durften
.
Dinge, denen er keinen Raum gab in seinem Leben.
Für Hauptkommissar Jörg Albrecht begann die Geschichte des PK Königstraße mit dem 1. März 1989.
Alles, was davor gewesen war, hatte niemals existiert.
Bis zu diesem Augenblick, in dem Irmtraud Wegner erschöpft den Atem ausstieß und ihre Hände in den Schoß legte, auf den Synthetikstoff des geschmacksfernen Kleides.
Es war der Augenblick, in dem die Zeit, die bis zu diesem Moment stillgestanden hatte, mit einem schmerzhaften Ruck wieder einsetzte.
«Der Traumfänger», flüsterte Hannah Friedrichs.
Es war derselbe Tonfall, in dem primitive Stämme den Namen ihres finstersten Götzen aussprechen mochten: atemlos, voller Furcht, und doch mit einem zitternden Gefühl der Verehrung, wie es allem entgegengebracht wird, das groß ist. Selbst wenn es allein die Größe ist, die in allem Absoluten liegt, und sei es in der absoluten Bosheit.
«Unser Täter ist der Traumfänger?», flüsterte Friedrichs. «Max Freiligrath?»
«Nein», sagte Irmtraud Wegner, und es war Jörg Albrecht, auf dem ihr Blick lag. «Nachdem Sie gestern keine Zeit hatten,
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