Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
Vom Netzwerk:
Füße habest und in die Hölle, in das unauslöschliche Feuer geworfen werdest.‹«
    Darrel dreht dem Priester den Rücken zu.
    »Danke, Reverend.« Mutter schließt die Tür.
    XXX
    Kurz darauf kommt der Lehrer, Rupert Gillis. Auf sein Klopfen hin öffne ich die Tür. Als ich sehe, wer es ist, ziehe ich mich erschreckt zurück. Er hebt grüßend den Hut und nennt mich »Miss«. Mutter beobachtet alles genau. Das Funkeln in ihren Augen gefällt mir nicht.
    »Wie geht es Ihnen, Master Finch?« Der Lehrer steht an Darrels Bett.
    »Sehen Sie selbst«, antwortet Darrel von oben herab. Beinahe wünschte ich, Mutter würde ihn zurechtweisen, aber sie rührt sich nicht. Stattdessen häutet sie hochkonzentriert Maiskolben.
    Ich biete Mr Gillis Wasser an. Er nimmt einen Schluck.
    »Wenn es Ihnen besser geht, möchten Sie vielleicht wieder zur Schule gehen, Mr Finch.« Er spricht mit Darrel und wendet seinen Blick doch keine Sekunde von meinem Körper ab. Ich verschwinde in der Speisekammer.
    Mutter räuspert sich.
    »Das Lernen könnte Sie von Ihren Problemen ablenken.«
    Darrel reagiert nicht.
    »Wir haben noch niemanden gefunden, der so gut rezitieren kann wie Sie«, lockt der Lehrer. »Ein solcher Geist braucht Übung. Vielleicht werden Sie selbst einmal Lehrer.«
    Geräuschvoll rupft Mutter die Blätter von den Maiskolben.
    »Danke für Ihren Besuch, Herr Lehrer«, sagt sie. »Das war sehr freundlich von Ihnen. Doch, wie Sie sehen, hat mein Sohn nicht genügend Kraft, um Gäste zu empfangen.«
    Ich bringe den Lehrer zur Tür. Als ich ihm den Hut reiche, streift seine Hand meinen Arm.
    Mutters Augen entgeht nichts.
    XXXI
    Der Rand von Darrels Wunde färbt sich schwarz. Mutter rührt keinen Bissen mehr an, genauso wenig wie ihr Sohn.
    Goody Pruett drückt mit ihrem Fingernagel auf dem schwarzen Fleisch herum. Darrel bemerkt es kaum.
    Dr. Brands schläft nie, weil er sich ständig um die Verwundeten kümmert. Bis zu uns hat er es noch nicht geschafft, denn wir wohnen eine Meile außerhalb der Stadt und gehören auch sonst eher zu den Außenseitern. Vielleicht bin ich schuld, weil ich Darrel selbst nach Hause gebracht habe. Wäre er am nächsten Tag nach Hause geschleift worden, hätte er vielleicht am Ruhm der Verwundeten teilhaben können. Dann würde sich das Dorf mehr Sorgen um ihn machen.
    Ich tue was ich kann für Mutter, Darrel, Fee und Mensch – so habe ich unsere Kuh getauft. Sie wollte die Scheune nicht mit einem Pferd teilen, das einen Namen hatte, während sie dergleichen nicht von sich behaupten konnte. Etwas weiter von »Fee« entferntes als »Mensch« ist mir nicht eingefallen. Und es passt am besten zu dieser klapperdürren Wiederkäuerin.
    Ich ernte die Kürbisse und rolle sie in die Scheune. Ich fülle den Karren mit Kürbissen und Karotten. Ich schneide Petersilie und Kohl und koche eine Suppe, mit der ich die Kranken und Missmutigen in Versuchung führen will. Aber niemand möchte probieren. Am Abend striegele und wasche ich Fee und Mensch. Auf dem Rückweg zum Haus betrachte ich den Mond. Fett und orange hängt er am Himmel. Morgen Nacht ist Vollmond. Ich rede mir ein, dass der Mond mich nicht mehr an ihn zu erinnern braucht.
    Dann falle ich ins Bett. Ich müsste dringend ein Bad nehmen, aber ich bin zu müde. Zum ersten Mal seit Tagen richtet Mutter das Wort an mich:
    »Hol morgen früh Horace Bron.«
    XXXII
    Nach dem Aufwachen mache ich mich für den Weg ins Dorf zurecht. Darrel liegt verschwitzt auf seiner Matratze, sein Gesicht ist grün-grau.
    Ein letztes Mal betrachte ich seinen verbundenen, fauligen Fuß. Dann mache ich mich auf den Weg zu Horace Bron, dem Schmied, der mit seinem Beil Gliedmaßen abtrennt, wenn der Arzt es nicht schafft oder wenn sich jemand den Arzt nicht leisten kann.
    Muss das wirklich sein?
    Im Dorf läuten die Glocken. Die Leute gehen in ihrer Sonntagskleidung zur Kirche. Ich beobachte das Geschehen von einer Hausecke aus, weil ich wissen will, was los ist.
    Die Tür geht auf und Maria stürzt aus dem Haus. Sie trägt ein hellblaues Kleid. Ihre Haube ist mit getrockneten weißen Blumen geschmückt.
    »Judith!« Sie fasst mich an den Armen und zieht mich ins Haus.
    Überrascht stolpere ich hinter ihr her.
    Sie umarmt mich und küsst mich auf beide Wangen. Ich spüre die feuchten Stellen.
    »Komm zu meiner Hochzeit, Judith«, strahlt sie mich an. Sie wird rot. »Komm und feiere mit, denn in einer halben Stunde heirate ich meinen Leon.«
    In ihrer Freude ist sie so wundervoll,

Weitere Kostenlose Bücher