Ich bin die, die niemand sieht
Decke und lege mich neben dich. Kalt und hart drückt der Boden gegen meinen Hüftknochen. Ich schmiege mich an deinen Körper und spüre dich.
Alles dreht sich.
Im Schlaf bewegt dein Atem mein Haar. Ich schmiege mich noch enger an dich und fürchte zugleich, jeder meiner Atemzüge, jeder Schlag meines Herzens könnte dich wecken.
Die Sterne am Himmel beobachten die Grenzüberschreitung, die ich hier begehe. Doch weder Sünde noch die Furcht vor der Sünde reichen bis hierhin. Wir wärmen uns gegenseitig. Jip macht es sich zu unseren Füßen gemütlich.
Der kühle Blick der Sterne sagt mir, dass ich nicht nur eine Sünderin, sondern auch eine Diebin bin. Ich stehle die Berührungen, die du mir nicht freiwillig zuteil werden lässt.
Doch du wirst nie von diesem Raub erfahren.
Du brauchst jetzt Wärme.
Nachts im Wald ist alles möglich.
XXXVIII
Freude und Leid fallen zusammen. Von deinem Leid stehle ich meine Freude.
Jedes Geräusch des Waldes macht mich nervös.
Die Zeit vergeht. Ich denke an Mutter.
In jedem Augenblick weiß ich, dass ich nicht noch länger bleiben kann. Nur noch eine Minute und dann muss ich wirklich gehen. Ich zähle bis zehn und gehe dann. Aber als ich die zehn erreiche, ist der Gedanke unerträglich, von dir fortzugehen. Wenn ich mich nur ein bisschen von dir löse, dringt eine derartige Kälte in die Lücke – kein Mensch kann das aushalten.
Außerdem muss ich dich wärmen.
Die Nachttiere machen Mitternachtslärm. Auch du bewegst dich im Schlaf. Panisch beschließe ich, jetzt wirklich gehen zu müssen.
Da legst du im Schlaf deinen Arm um mich. Schwer, stark und doch schlafweich umgibt er mich. Mehr braucht es nicht, um mich aufzuhalten. Langsam lege ich meine Hand in deine.
XXXIX
Sind nur Minuten vergangen? Oder schon Stunden? Ich weiß es nicht. Du ziehst den Arm weg und drehst dich auf die andere Seite. Auf der Suche nach einer gemütlichen Lage grunzt du ein wenig im Schlaf. Es sind süße Laute, wie die eines Babys.
Jetzt kann ich fliehen. Mutter wird inzwischen in Rage sein. Dabei braucht Darrel uns doch morgen beide …
Um seinetwillen gehe ich. Nicht um deinetwillen oder wegen Mutter und ganz gewiss nicht um meinetwillen.
Ich kann nicht nach Hause gehen. Ich muss rennen. Ansonsten würde ich umkehren und mich wieder neben dich legen. Als unser Haus in Sichtweite kommt, verlangsame ich meine Schritte und klopfe hektisch den Schmutz des Waldbodens von meiner Kleidung. Mutter würde sonst misstrauisch. Aber ich mache mir unnötig Sorgen, denn sie ist inzwischen schlafen gegangen. Ihre Angst um Darrel ist heute Nacht stärker als alles andere.
XL
Ich liege wach. Darrel wimmert. Ich bin erstaunt über meinen Mut und verfluche mich zugleich dafür, dass ich mir das Leben selbst noch schwerer gemacht habe: Ich habe von einem Sirup gekostet, den ich nie wieder trinken darf.
Doch in meine Euphorie und Sorge mischen sich unwillkürlich Bilder von Abijah Pratt, der mir aufgelauert hat.
Darrel schreit wie ein Kind. Mutter wacht nicht auf, also gehe ich zu ihm.
Für Mutter und mich ist das alles zu viel. Als Patient ist Darrel einfach eine Bürde. Ich kann Mutter nicht vorwerfen, dass sie nicht aufsteht.
Heute weint Darrel aber nicht vor Schmerzen. Sondern aus Angst vor dem morgigen Tag.
Ich trockne seine Tränen mit einem Stück Stoff.
»Ich habe Angst, Judy.«
Ich wische ihm Gesicht und Hände ab.
»Es wird unglaublich weh tun.«
Das zu leugnen ergibt keinen Sinn.
»Ich bin nicht mutig.«
Niemand hat dich des Mutes bezichtigt, du Esel.
Darrels Gesicht ist angstverzerrt. »Und die Verletzung stammt nicht einmal von ihnen. Ich war es. Ich habe die Waffe falsch bedient.«
Er glaubt, das sei mir neu. Ich spiele mit und streiche ihm die Haare aus der Stirn.
»Oh Judy«, weint er. Ich umarme ihn fest.
Durch die wochenlange Bettlägerigkeit ist er mager geworden. Und er stinkt.
Die Liebe zu meinem kleinen Bruder wird von Angst begleitet. Bitte stirb morgen nicht, bitte lass mich nicht mit Mutter allein. Was wäre die Welt ohne einen Bengel wie dich?
Er lässt mich los. Wir meiden den Blick des anderen.
»Ich stinke«, bemerkt er. Ich nicke kräftig. Er grinst. Gemeinsam zu lachen tut gut, auch wenn es ganz leise ist. Doch unsere Freude verfliegt schnell. Ich habe eine Idee. So leise wie möglich schiebe ich den blechernen Waschzuber ans Feuer. Die Kohlen glühen, der gefüllte Wasserkessel ist heiß und auch im Suppentopf ist Wasser für die morgige Wäsche. Ich
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