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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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beschleunigen sich.
    Als ich ins Dorf komme, sind noch viele Fenster erleuchtet, auch das von Melvin Brand. Er behandelt jemanden auf dem Küchentisch. Ich kann das Gesicht des Patienten nicht erkennen, aber ich sehe einen blassen Körper und viel Rot. Schnell gehe ich weiter.
    Die leere Schubkarre lehnt neben der Tür zu Abe Duddys Laden. Langsam mache ich mich mit der Karre auf den Rückweg. Ich halte nach Lebenszeichen Ausschau. Die Wagen sind noch nicht zurück. Vielleicht kommen sie morgen.
    Ich habe keinen Grund zur Eile. Langsam schiebe ich die Karre und lausche auf das Quietschen der Achse und das Knistern der Blätter und Zweige unter den Rädern.
    Als ich um die Kurve biege, sehe ich Licht in deinem Haus. Ich lasse die Karre stehen, damit ihre Geräusche mich nicht verraten, und schleiche mich im Schutz der Nacht an. Ich verstecke mich hinter einer Eiche unweit deines Fensters.
    Auf dem Tisch flackert eine Kerze. Im Kamin brennt kein Feuer. Du sitzt zusammengesunken da, den Kopf zwischen den Armen vergraben.
    Ich sehe keine Flasche.
    Zittern deine Schultern?
    Ich spüre den kalten Wind, höre die Nachtvögel rufen. Ich bin zu lange draußen geblieben, länger als es sich gehört, selbst für meine Verhältnisse. Aber ich kann meinen Blick nicht von dir wenden.
    Ich erschrecke, als du die Arme hoch in die Luft hebst und krachend auf den Tisch schlägst.
    Die Kerze fällt hinunter und erlischt.
    Dein Weinen dringt durch das Fenster und vertreibt mich. Du hast deine Liebe verloren und es hat dir das Herz gebrochen.
    Ich schleiche davon. Selbst ich lasse dich in so einem Moment in Ruhe.
    XXII
    Am nächsten Morgen hole ich so schnell wie möglich die Schubkarre, die ich vor deinem Haus hatte stehen lassen. Ich habe Angst, du könntest sie finden. Zu Hause belade ich sie und schiebe sie wieder ins Dorf. Heute kann ich nicht ohne Einnahmen nach Hause kommen, sonst wird Mutter sich fürchterlich aufregen.
    Immer noch keine Spur von dir. Vielleicht ruhst du dich aus. Hoffentlich.
    Doch als ich eine Stunde später nach Hause zurückkehre, verabschiedest du dich gerade von meiner Mutter und gehst. Ich halte inne. Du warst hier und ich nicht?
    Ich gehe hinein. Meine Enttäuschung will ich mir nicht anmerken lassen.
    »Lucas war hier und hat sich nach mir erkundigt, Wurm«, ruft Darrel vom Bett aus. Sein Fuß lagert auf einem Stapel Kissen.
    Ich sehe ihn fragend an.
    »Er wollte wissen, ob wir etwas brauchen.«
    Deine eigenen Zukunftsträume sind zerstört und dennoch besuchst du Darrel. Wer will schon Darrel besuchen? Du bist gut. Keiner weiß das so gut wie ich. Maria wusste es nie – gesegnet seien ihre ebenholzfarbenen Locken. Mögen sie sich noch lange um Leon Cartwrights Finger ringeln.
    XXIII
    Die geflohenen Familien sind zurückgekehrt. Am folgenden Abend versammelt sich das ganze Dorf in der Kirche zur Totenmesse. Die Stimmung ist beinahe festlich, auch wenn die Erde auf den zwanzig neuen Gräbern dafür noch viel zu frisch ist.
    Mutter geht nicht zur Kirche. Ihr Vorwand ist die Versorgung der Verwundeten. Darrel hat wieder Fieber und sein Fuß riecht faulig. Tagsüber tue ich, was ich kann – es ist nicht viel –, später gehe ich ins Dorf. Ich kann unbemerkt in der hinteren Ecke der Kirche sitzen. Aber ich möchte wissen, was der Priester sagen wird.
    Abijah Pratt dreht sich nach mir um. Er saugt unablässig an der Unterlippe.
    Ich setze mich auf die Eckbank und verstecke mich im Schatten.
    Die Leute flüstern. Mehrmals schnappe ich »Ezra Whiting« auf.
    Die Tür knarzt. Du betrittst die Kirche. Das Flüstern hört auf. Alle sehen dich an. Sie schenken ihrem Kriegsheld kein Lächeln. Von der anderen Hinterbank tönt grobes Lachen. Es ist Dougal Wills, der pickelgesichtige Cousin von Leon Cartwright. Du bist jetzt eine Witzfigur, weil du deine Verlobte in aller Öffentlichkeit verloren hast.
    Die Türen öffnen sich erneut. Jetzt denken die Leute nicht mehr an dich, denn Priester Frye betritt die Kirche. Seit der Schlacht hinkt er. Er erreicht das Rednerpult und klammert sich mit seinen langen Fingern daran fest. Sein schwarzer Mantel saugt alles Licht in der Kapelle auf.
    Eunice Robinson kommt mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester. Ihre Verspätung lässt sie erröten. Sie setzt sich auf die Bank, die deiner gegenüber liegt, und schüttelt ihr Kleid aus. Ihre Freundin hat dich verlassen, deshalb versucht sie jetzt ihr Glück. Als du zu ihr hinübersiehst, haftet ihr Blick fest auf dem himmlischen

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