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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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so schön, dass es schmerzt.
    Sie will, dass ich zu ihrer Hochzeit komme?
    Ich lege die Hand auf mein Herz und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich? Sie versteht.
    »Ja, du«, bekräftigt sie. »Ich wollte schon eher mit dir reden, aber ich musste mich um Leons verletztes Bein kümmern.«
    Ich erinnere mich an den Vollmond von letzter Nacht: Heute wäre dein Hochzeitstag gewesen.
    Immer noch starre ich Maria verständnislos an. Sie begreift und umarmt mich erneut.
    »Ich habe längst beschlossen, dass du mehr bist, als du zu sein scheinst. Deine Zunge mag verstümmelt sein, aber dein Geist ist es nicht. Dir entgeht nichts.«
    Ich bin nicht gewöhnt, dass mir jemand so viel Aufmerksamkeit schenkt oder länger als einen Augenblick über mich nachdenkt. Ich senke den Blick.
    Sie drückt meine Hand. »Und du bist freundlich, obwohl sie dich so schlecht behandeln.«
    Erstaunt blicke ich auf.
    »Du bist freundlich zu mir, obwohl ich dir nie einen Grund dafür gegeben habe. Nicht einmal vorher.«
    Mir wird heiß. Ich werde immer verwirrter.
    »Mein ganzes Leben lang war ich ein selbstsüchtiges, verwöhntes Ding, Judith. Aber ich will mich ändern. Heute bekomme ich einen neuen Namen. Für mich ist das der Beginn eines neuen Lebens.«
    Ich freue mich so über den neuen Namen, den Maria heute nicht bekommen wird.
    »Sei meine Freundin, Judith. Besuch mich in meinem neuen Haus. Dann reden wir.«
    Ich schließe die Augen.
    »Ja, reden«, fährt sie fort. »Das werden wir tun. Wir werden einander verstehen. Ich bin fest entschlossen, dich besser kennen zu lernen.«
    Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich sehe sie an.
    »Ich bin jetzt der Inbegriff des Skandals«, sagt sie mit leuchtenden Augen. »Denn ich habe meine Verlobung mit Seiner Hoheit aufgelöst. Aber das ist mir egal. Ich habe meinen Leon. Und jetzt wissen alle, dass Colonel Whiting die ganze Zeit am Leben war und Lucas das geheim gehalten hat. Da wird niemand mir lange die Schuld geben. Dennoch brauche ich eine gute Freundin. Eine Freundin mit einer gewissen Intelligenz.«
    Ich nicke. Ich bin zu überrascht, um klar denken zu kön nen. War das ein Lob oder eine Anklage? Ihr Blick wirk t freundlich, aber was bedeutet all das?
    »Kommst du zu meiner Hochzeit, Judith?«
    Ich mache einen Schritt zurück und blicke an mir hinunter. Angesichts meiner schmutzigen Arbeitsschürze und meiner einfachen Kleidung schüttele ich den Kopf.
    Sie wirkt enttäuscht. Maria Johnson ist Enttäuschung nicht gewöhnt. Aber heute ist sie großzügig.
    »Ich verstehe. Kommst du mich trotzdem besuchen? Vielleicht nächste Woche?«
    Ich versuche mich zu erinnern, wie man lächelt. Dann lächle ich. Ja, ich werde kommen.
    Sie küsst mich auf die Stirn. »Danke. Wünschst du mir Glück?«
    Ich lächle wieder.
    Sie schürzt ihr Kleid. »Ich muss gehen.«
    Ich halte ihr die Tür auf. Sie läuft eilig zur Kirche und ich mache mich auf den Weg zum Schmied.
    XXXIII
    Die Schmiede ist kalt und ruhig heute. Natürlich – die Hochzeit. Hier gibt es so selten Anlass zu feiern, dass jedes Mal das ganze Dorf hingeht. Selbst wenn Maria momentan gleichbedeutend ist mit Skandal.
    Alle gehen hin. Alle außer Mutter, Darrel und mir.
    Und wahrscheinlich außer dir.
    XXXIV
    Als ich das Dorf verlassen will, kommt Abijah Pratt um die Ecke. Ich erschrecke, aber seine finsteren Augen wirken nicht überrascht. Als hätte er mir aufgelauert.
    »Seltsam, eine Frau in einer Schlacht zu sehen«, bemerkt er.
    Ich mache einen Schritt zurück. Mein Herz klopft. Es gibt noch andere Wege nach Hause – wenn mir nur einer einfallen würde!
    »Fast so seltsam wie der Anblick eines Mannes, der angeblich tot ist.«
    Ich blicke mich um. Weit und breit keine Menschenseele.
    Hinter mir erstreckt sich die Hauptstraße, vor mir Ackerland, und doch fühle ich mich von seinen vorwurfsvollen Augen in die Enge getrieben. Ich mache einen Schritt nach vorne. Auch er macht sich bereit. Ich will nach rechts gehen – er bewegt sich in dieselbe Richtung.
    Was hast du vor, alter Mann? Obwohl er tatsächlich weder alt noch jung ist.
    »Du bist nur noch am Leben, weil du keine Zunge hast. Sonst hätte man dich schon wegen Ehebruchs bestraft, weißt du das? ›Jedes Knie soll sich beugen, jede Zunge bekennen.‹ Aber du kannst nichts bekennen, stimmt’s? Also entgehst du der Strafe. Noch.«
    Seine Worte sind wie Insekten, die am Rande meines Blickfelds surren. Ich begreife nicht sofort.
    Das Schweigen ist eine Methode, die ich perfektioniert habe. Es

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