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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Darrel ist noch auf, um zu lesen. Bei Kerzenschein arbeite ich an Darrels Büchertasche weiter. Als Mutter sich hingelegt hat, schiebt Darrel mir wortlos die Bibel herüber. Er weiß sogar, auf welcher Seite ich bin.
    Wir sehen uns an. Dann sieht er mir beim Lesen zu. Er wird mich nicht verraten.
    LXXI
    An den Strömen von Babylon, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.
    Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, unsere Peiniger forderten Jubel: ›Singt uns Lieder vom Zion!‹
    Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?
    Ich weine um die Gefangenen und um ihre gebrochenen Herzen, die bei den Harfen in den Weiden am Flussufer hängen.
    LXXII
    Ich stehe auf, noch bevor ich meine morgendlichen Pflichten erledigen muss. Über raschelndes Laub gehe ich tief in den Wald, bis zu Vaters Felsen. Der Himmel ist purpurrot, gerade erst schiebt sich die Sonne über den Horizont. Ich sehe mich um: Ich bin völlig allein.
    Ich stelle mich auf den Felsen, schließe die Augen und singe.
    Ich singe ein Lied ohne Worte, aus Ahs und Ohs, zur Melodie eines alten Lieds, das Vater mir vor vielen Jahren einmal beibrachte.
    Zuerst schäme ich mich meiner Laute und sehe mich um, als könnten die Bäume mich kritisieren. Manchmal geht mir die Luft aus, noch bevor ich einen Laut hervorgebracht habe. Ich schlucke, atme tief ein und versuche es erneut. Sanft, ganz sanft. Jetzt geht es schon ein bisschen besser.
    Gönne deinem Körper Ruhe, sagte Vater immer, wenn wir hier gemeinsam sangen. Lass deinen Körper schlafen und nur die Musik wachen.
    Diesmal klingt das Lied süßer. Ich habe einen längeren Atem. Aber die kalte Luft kühlt auch meinen Hals.
    Fang langsam an, ganz sanft. Es ist, als könne ich Vater hören. Sonntags in der Kirche sang er immer so wunderschön. Jeder wusste das. Beim Singen orientierten sich alle an ihm.
    Ich versuche es wieder. Die Laute machen mich glücklich, sie kitzeln meine Haut.
    Ich schließe die Augen und stelle mir vor, mein Körper schlafe und nur die Musik ströme wie Luft durch ihn hindurch. Wieder und wieder singe ich, bis die Töne leicht und rein klingen. Was in mir schafft es, nach so langer Zeit solche Töne hervorzubringen? Wie konnte ich zulassen, dass es zum Schweigen gebracht wurde?
    Ich singe mit ausgebreiteten Armen. Die Äste bewegen sich sanft in der morgendlichen Brise. Meine Stimme hört sich ganz anders an als die des kleinen Mädchens, das ich einst war.
    Jetzt singe ich eine neue Melodie, die höher hinaufsteigt. Ich erinnere mich an die Worte, versuche mich aber noch nicht an ihnen. Nichts soll diesen Moment zerstören.
    Oh Liebchen, im Frühling, du bist so schön
    Oh Liebchen, lass dein goldenes Haar hinab,
    Oh Liebchen, im Frühling, willst du mich heiraten?
    Oh Liebchen, willst du mich ewig lieben?
    Irgendwann muss ich aufhören. Mein Hals beginnt zu schmerzen. Ich muss öfter singen, wann immer ich mich fortstehlen kann. Ich springe von dem Felsen, der meine Bühne geworden ist, und drehe mich um.
    Da auf dem Weg stehst du und starrst mich an.
    Ich schlage die Hand vor den Mund und schließe die Augen.
    Als ich sie wieder öffne, stehst du immer noch da. Hinter dir geht die Sonne auf. Du siehst mich an, als sei ich eine Fremde.
    Ich laufe an dir vorbei, nach Hause.
    LXXIII
    Die morgendlichen Arbeiten sind heute wie Folter für mich. Ich bin langsam und stelle mich ungeschickt an, vergesse, was zu tun ist. Ein Ei fällt mir auf den Schuh. Ich hole Holzscheite für die Nacht statt Kienspäne. Mutter beschwert sich murmelnd, aber ich höre sie kaum.
    Beim Frühstück bestreiche ich mein Brot auf beiden Seiten mit Butter. Mutter quäkt wieder. Darrel lacht laut. Sein Lachen haben wir schon sehr lange nicht gehört.
    Ich denke nur an meinen Wagemut. Maria bringt mir das Sprechen bei. Mein Kopf ist voller Musik, voller Noten, die in mir widerhallen. Oh Liebchen, willst du mich ewig lieben?
    Ich weiß, dass du mich gesehen hast.
    LXXIV
    Es klopft.
    Mutter wischt die Hände an der Schürze ab und rückt sich die Haube zurecht. Sie drückt den Rücken durch und öffnet. Im Gegenlicht sieht sie aus, als empfange sie einen Himmelsboten.
    Ich höre deine Stimme.
    »Guten Morgen, Mrs Finch.«
    Mutter neigt kaum merklich den Kopf. »Mr Whiting.«
    Ich stelle mich näher an die Wand, um durch den Türspalt einen Blick auf dich zu werfen.
    »Wie geht es Darrel?«
    Mutter presst die Lippen zusammen

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