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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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wir. An den Strömen von Babylon, da saßen wir, u, n, d. Und. W, e, i, n, t, e, n. Wee-nntn? Weinten. Manche Wörter waren störrischer als andere. An den Strömen von Babylon, da saßen wir und weinten .
    Vom Bett aus beobachtet Darrel mich aus halb geschlossenen Augen.
    Ich höre Mutters Schritte und greife nach meinem Kleid und meinen Unterröcken.
    LXIII
    Am Nachmittag gehe ich wieder zu Maria. Als ich an deinem Haus vorbeikomme, sehe ich nicht einmal nach, ob du zu Hause bist. Ich habe genug anderes im Kopf.
    Maria empfängt mich freudig. Wieder bewirtet sie mich. Nach dem Tee sitzen wir zusammen und nähen. Plötzlich stellt sie eine ungeheuerliche Frage.
    »Warum sprichst du nicht, Judith?«
    Ich halte inne. Kann es wirklich sein, dass sie mich das fragt?
    Sie sucht meinen Blick. »Du kannst es doch, oder? Ein bisschen? Gestern hast du ›Buch‹ gesagt. Hast du schon einmal versucht, mehr zu sagen?«
    Ich spüre mein klopfendes Herz und denke an die Warnungen meiner Mutter und an die Angst, meine Schande durch meine grässlichen Laute noch zu vergrößern.
    »Sei bitte nicht böse«, sagt sie. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Wir müssen es irgendwie schaffen, dass du wieder sprechen kannst.«
    Ich lege meine Näharbeit beiseite. Vorsichtig forme ich das Wort. Meine Stimme klingt brüchig, als sei ich krank.
    »Warum?«
    Maria sieht mich triumphierend an. Sie nimmt meine Hand.
    »Weil ich dich kennenlernen will. Und andere werden das auch wollen.«
    Ich beginne zu schwitzen. Was ich nun sagen muss, ist sogar noch anstrengender als meine einstigen Versuche, mi t dem Colonel zu sprechen.
    »Sie …sssagen …« Jeden Ton muss ich mir genau vorstellen, muss überlegen, wie die Muskeln in Gesicht und Hals zusammenspielen, um ihn zu formen. In vier Jahren vergisst man viel. »dass … ichh … vrrflucht …bin.«
    Maria schenkt Tee nach. Dankbar verstecke ich meinen Mund hinter der Tasse.
    »Ich weiß, dass einige behaupten, du seist verflucht«, antwortet sie ganz ruhig. »Erkläre ihnen, dass das nicht stimmt.«
    LXIV
    Auf dem Heimweg übe ich ganz leise verschiedene Laute. Mma, mmu, mmi, mme, mmo. Ba, bo, bi, be, bu. Pu, po, pi, pa. Meine Lippen geben sich jedes Mal große Mühe.
    Goody Pruett ist beinahe taub und doch fühle ich mich ertappt, als ich um eine Wegbiegung gehe und sie mir entgegenkommt. Sie hat einen leeren Korb bei sich.
    »Sie sind in letzter Zeit viel unterwegs, Miss Judith«, bemerkt sie und sieht mich aus dunklen Augen an. Mit krummem Finger klopft sie an ihr Kinn. »Was haben Sie bloß vor?«
    Ich überlege. Ich habe das gleiche Recht wie alle anderen, diesen Weg entlangzugehen. Aber sie bringt mich aus der Fassung, weil sie mich – wie immer – sofort durchschaut hat.
    »Sollten Sie je etwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden. Es gibt Schlimmeres, als Goody Pruett um Hilfe zu fragen.«
    Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also begnüge ich mich mit einem freundlichen Nicken. Ich brauche keine Hilfe. Aber sie meint es gut. Immerhin hat sie keine Angst vor mir. Doch selbst wenn ich etwas erzählen könnte, würde ich dieser alten Plaudertasche nie ein Geheimnis anvertrauen.
    LXV
    An den Strömen von Babylon, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
    Auch ich habe an einem Fluss gesessen und um meine Heimat geweint. An einem reißenden Strom. Damals, als ich nach zwei Jahren zurückkam und ihn überquerte.
    Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.
    Ich habe keine Harfe, aber ich habe die Erinnerungen an Lottie und an eine glückliche Kindheit in meine Weide am Fluss gehängt.
    LXVI
    »Jetzt, wo Darrel ein Invalide ist«, sagt Mutter, »gibt es mehr als genug Arbeit für uns beide. Deshalb verstehe ich wirklich nicht, warum du deine Zeit damit verschwendest, in einem Buch zu blättern, obwohl du nicht lesen kannst.«
    LXVII
    »Ich habe ein bisschen geübt«, verkündet Maria, als ich sie am nächsten Tag wieder besuche. »Bitte lach nicht … Ich habe versucht herauszufinden, welche Laute ohne Zunge gebildet werden können. Es … Wie ich schon sagte, es gibt keinen Grund, um die Wahrheit herumzureden, oder? Du hast keine Zunge. Fehlt dir die ganze Zunge oder nur ein Stück? Mach den Mund auf.«
    Ich habe nie zuvor einen Menschen wie Maria getroffen, aber mittlerweile habe ich mich an sie gewöhnt. Ich öffne den Mund und schiebe das, was von meiner Zunge übrig ist, weit nach vorne. Ich schäme mich meines Atems und meiner Zähne, aber

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