Ich bin die, die niemand sieht
dafür ist es jetzt zu spät.
Sie umfasst meinen Kiefer und hält meinen Kopf so, dass das Licht in meinen Mund fällt. Sie untersucht mich, wie ein Arzt es täte, neugierig und ohne jedes Anzeichen von Entsetzen.
»Siehst du. Ich glaube, du kannst wieder sprechen lernen. Wenn du viel übst, wird man dich bald gut verstehen können. Und das wäre doch das Wichtigste, oder? Das Wichtigste auf der Welt.«
Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich bin es leid, stets meinen Gesichtsausdruck zu wählen wie andere ihre Worte. Für jene, die mein Gesicht wirklich lesen wollen, ist jedes Mienenspiel ein lauter Schrei. Das Schweigen ist mein einziger Schutz – so wie neulich bei der Begegnung mit Abijah Pratt.
Ungeschickt stammele ich eine Antwort. » Ss …wrrd …nii …gut …gllgn.«
Sie sieht mich fragend an. Diesmal hat selbst sie nichts verstanden. Dann nickt sie. Jetzt hat sie es begriffen.
»Wer sagt, dass es nie gut klingen wird?«
Wütend schlage ich mir auf die Brust. Ich sage es. Jeder der weiß, wie elegant Sprache klingen kann und klingen sollte, wird es auch so sehen.
»Du solltest es versuchen. Wenn du übst, wirst du besser.« Ihre Augen leuchten. »Gestern waren Leon und ich bei Familie Aldrus. Sie haben zwei kleine Kinder und ich habe die Sprechversuche der Jüngsten beobachtet. Ihre Mutter verbessert sie. Auf diese Weise lernt sie und sie wird mit der Zeit immer besser werden. Warum sollte das nicht auch für dich gelten?«
Ich lasse den Kopf hängen. Auf der einen Seite will ich unbedingt sprechen, gehört werden – und eines Tages mit dir reden können. Auf der anderen Seite ist nur Verzweiflung. Ich werde immer entsetzlich klingen, mit meiner zerstörten Stimme und meiner verstümmelten Zunge. Warum das Beispiel nicht für mich gilt? Weil das Baby der Familie Aldrus eine kleine, runde, rosa Zunge hat.
Maria fasst meine Hände. »Hier bist du sicher, Judith. Versuch es doch einfach. Bitte. Ja?«
Jetzt weiß ich, warum du ihr nicht widerstehen konntest – oder kannst. Sie könnte sogar Bienen aus dem Bienenstock locken.
Ich sehe sie an. Diesmal verstecke ich meinen Blick nicht hinter meinem Schweigen. Ich nicke.
Sie reibt sich die Hände. »Sag irgendetwas. Bilde irgendeinen Laut. Sag Ah.«
Ich schäme mich. Ich schlucke. »Ah.« Ich klinge wie jemand mit Keuchhusten.
»Genau! Noch mal. Ah. Ah. Ah.«
Ich gehorche.
»Jetzt langsam. Aaaaaaaaah.«
Ich sage es langsam.
»Ja, das ist besser. Du klingst wunderbar. Hör auf die Augen zu verdrehen, ich meine es ernst. Probiere es jetzt mit Oh.«
Sie lässt mich alle möglichen Laute üben. Weiche Laute, für die ich keine Zunge brauche, harte Laute, die ich mit den Lippen bilden kann, gutturale Laute, die hinten im Hals entstehen. Mm. Wa. Ff. Ba. Ha. Pa. Arr. Va. Gg. Ck. Ng. Irgendwann schmerzen meine Lippen. Mein Hals fühlt sich trocken und müde an.
Doch Maria streckt triumphierend die Arme aus. »Siehst du jetzt, was du kannst?«
Ich freue mich, dass sie so zufrieden mit mir ist. In diesem Moment humpelt Leon herein und sieht uns verwundert an.
Auf dem Heimweg merke ich an der beginnenden Dämmerung, dass ich beinahe zwei Stunden bei Maria war. Mutter wird die Wände hochgehen. Mein Hals ist trocken, meine Zunge – oder was davon übrig ist – schmerzt von den Übungen. Aber meine Schritte sind selbstbewusst. Ich habe eine Freundin. Ich habe mit ihr gesprochen und sie hat sich nicht erschreckt.
LXVIII
Als ich beinahe auf Höhe deines Hauses bin, wage ich es. Ich summe eine Melodie. Dafür muss ich nicht einmal meinen Mund öffnen. Die Melodie passt zum Rhythmus meiner Schritte. Das Summen kitzelt am Gaumen.
Ich bleibe stehen. Jemand folgt mir. Ich bin ganz sicher. Ich gehe weiter und bleibe wieder stehen. Auch die Schritte verstummen. Als ich weitergehe, höre ich sie wieder. Wer auch immer es ist will gehört werden, aber als ich mich umdrehe, sehe ich niemanden.
Ich hätte nicht summen sollen. Ich gehe schneller. Vielleicht ist es einer der älteren Schüler. Ein ehemaliger Klassenkamerad von Darrel. Vielleicht Mather oder Hoss. Es macht Spaß, die Stumme im Dorf zu ärgern, denn sie kann dich nicht bei deinem Vater verpetzen, stimmt’s?
LXIX
Während ich meinen abendlichen Pflichten nachgehe, rede ich mit Fee und Mensch. Zuerst übe ich die Laute. Gg. Kk. Ff . »Gute Kuh«, kann ich sagen. »Ffee«
Sie sehen mich seltsam an und stupsen mich mit den Nüstern.
Ich lache lauthals.
LXX
Mutter geht schlafen, aber
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