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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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nicke.
    Sie lächelt. Wir arbeiten noch fast eine Stunde lang Seite an Seite.
    LIX
    Ich hüpfe beinahe nach Hause. Ich habe den Wind im Rücken und meine Füße fliegen nahezu über den ausgetretenen Pfad.
    Eine Freundin. Habe ich wirklich eine Freundin?
    Das ist vielleicht nicht viel, aber mir erscheint eine Freundin wie ein Schatz.
    Warum ihre Wahl gerade auf mich fiel, verstehe ich nicht, aber ich zweifele nicht daran, dass sie es ernst meint.
    Sie mag mich. Sie will, dass ich sie wieder besuche. Und ich will das Schicksal nicht herausfordern, indem ich nach dem Grund frage. Nur die hübsche und wohlhabende Maria Johnson, jetzt Cartwright, kann es sich leisten, mit mir in Verbindung gebracht zu werden.
    Doch was habe ich ihr zu bieten? Nichts als meine stumme Anwesenheit. Immerhin kann ich zuhören.
    Vielleicht geht es eher um das, was sie nicht sieht. Dass ich keine Zunge habe, stört sie nicht und es ist ihr gleichgültig, was andere über meinen Ruf denken.
    Ohne die fehlende Zunge und die Sünden, die ich nie begangen habe, wäre ich eine genauso geeignete Freundin für sie wie jede andere.
    LX
    Zu Hause macht Mutter Apfelwein. Weil sie meine Hilfe nicht braucht, setze ich mich zu Darrel und arbeite an seiner Büchertasche. Er sitzt am Tisch und liest die Bibel, das dickste Buch, das wir besitzen. Das gefällt mir. Ich bin froh, dass er wieder zur Schule gehen will.
    Ich setzte mich neben ihn und sehe zu, wie er mit dem Finger die Zeilen entlang fährt. Ich betrachte die schwarzen Buchstaben auf dem vergilbten Papier. Ich kann ein wenig lesen und einfache Worte aussprechen, aber Darrel hat einen tieferen Zugang zu Wörtern und ihrer Bedeutung.
    Ich versetze ihm einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen.
    »Was?«, fragt er ärgerlich.
    Ich deute auf meinen Mund, dann auf seinen. Auf die Buchseite. Auf mein Ohr.
    »Ich soll dir etwas vorlesen?«
    Ja, du Idiot. Lies mir etwas vor.
    Er zuckt die Schultern und beginnt, mir vorzulesen. Seine Stimme ist so stark und sicher wie die des Priesters. Mr Gillis hat seine Rezitationskünste nicht umsonst gelobt. Aber wenn Darrel liest, sind die Worte voller Sehnsucht, sie urteilen nicht über andere wie die des Priesters.
    »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erden gemacht hat. ER wird deinen Fuß nicht gleiten lassen.«
    Darrels Stimme zittert bei dem Wort Fuß . Ich blicke ihn an. Er schluckt. Wütend und entschlossen liest er weiter.
    »Und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.«
    Er hält inne und sieht mich mit feuchten Augen an.
    »Du bist in die Berge gegangen, um Hilfe zu holen, nicht wahr, Judith?«
    Ich starre ihn an. Woher weiß er das? Und woher wusste er, dass Fee jetzt mir gehört?
    Er wendet sich wieder der Bibel zu. »Der Herr behütet dich; der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.«
    LXI
    Später ruht Darrel sich auf dem Bett aus. Mutter wiegt Mehl für das Backwerk von morgen ab. Ich sitze am Tisch und blättere im Schein einer Kerze in der Bibel. Das Papier riecht staubig. Ich fahre mit dem Finger über die Buchstaben.
    A, n. An. d, e, n. den. An den S, t, r, ö, m, e, n. Strö, men. Strömen .
    An den Strömen.
    Wenn das so weitergeht, brauche ich eine Woche für einen Absatz. Aber irgendetwas ist mit mir geschehen, als Darrel von der Sonne, dem Mond und den Bergen vorgelesen hat. Ich sah Bilder und Farben vor mir, ich spürte eine Begierde. Ich will diese Bilder wieder sehen und fühlen. Ich kann sie zwar nicht aussprechen wie er, aber ich kann die Worte in meinem Inneren hören.
    An den Strömen. V, o, n. Von.
    Das nächste Wort ist furchteinflößend lang. B, a, b, y. Baby? An den Strömen von Baby? L, o, n. Lon. Baby. Lon. Baby-lon. Dann fällt mir die Lösung ein. Es ist ein Wort, das ich schon viele Male von der Kanzel herab gehört habe. Babylon. Die Stadt der Gefangenschaft und der Sünde.
    An den Strömen von Babylon . Was ist dort geschehen?
    Das muss ich später herausfinden, denn Mutter beginnt sich zu fragen, was ich da eigentlich tue. Ich lasse die Bibel liegen und gehe in die Scheune.
    LXII
    Am nächsten Tag stehe ich früh auf. Während Mutter sich anzieht, beschäftige ich mich nochmal mit der Passage.
    An den Strömen von Babylon , lese ich stolz. D, a. Da. S, a, ß, e, n. Saßen. W, i, r. Wir. Es geht schon leichter. Da saßen

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