Ich bin die, die niemand sieht
Dorf, der gestern Abend nach uns sehen wollte«, spekuliert Darrel.
»Oder irgendein Landstreicher, der längst weitergezogen ist?« Mutter sieht mich an, als wüsste ich die Antwort. Sie glaubt, es sei mein Liebhaber gewesen. Ich erwidere ihren Blick.
Hoffentlich waren es nur die Jungs aus dem Dorf, die mal wieder Unfug im Sinn hatten. Obwohl Unfug schlimm genug sein kann, wenn er von diesen Halbwüchsigen ausgeht.
Nachdem Mutter eine Weile aus dem Fenster gespäht hat, schickt sie mich hinaus in die mögliche Gefahr. Die Kuh muss gemolken werden. Ich stapfe durch den Schnee. Er ist inzwischen hart geworden, sodass ich nur undeutliche Fußabdrücke hinterlasse. Doch die anderen Spuren sind ganz deutlich. Sie müssen früher entstanden sein, als der Schnee noch weich und pudrig war.
XII
Nachdem ich alle morgendlichen Arbeiten erledigt habe, löse ich so viel Feuerholz wie möglich von dem gefrorenen Stapel am Haus. Dabei übe ich das Wort Maria. Maria . Die Kunst liegt in der Lippenbewegung. Das R ist schwierig, aber mit etwas Übung kann ich es genauso aussprechen wie jeder andere. Ein fremder Zuhörer würde nicht bemerken, dass mir ein Teil der Zunge fehlt. Nach dem Frühstück hülle ich mich nochmals warm ein und lege Darrels Schneeschuhe an.
»Und wohin willst du jetzt?«, fragt Mutter.
»Maria«, antworte ich und genieße sowohl die Leichtigkeit, mit der das Wort aus meinem Mund gleitet, als auch das Zucken in Mutters Gesicht.
Was kann sie dagegen haben? So wie ich Maria sage, hört es sich weder verflucht noch teuflisch an.
Draußen tauchen Schnee und Sonne den Tag in gleißendes Weiß.
Ich laufe auf Schneeschuhen über die Verwehungen und sehe die Welt aus einer anderen Perspektive – von etwas weiter oben. Mir ist ein bisschen schwindlig, als könne ich jeden Moment aus dieser – wenn auch geringen – Höhe fallen.
Von so hoch oben sieht dein von Schneewehen umgebenes Haus bescheiden und unbedeutend aus. Aus Gewohnheit blicke ich zu deinen Fenstern, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich mich nicht mehr um dich kümmern wollte.
Also versuche ich, meinen Schneespaziergang zu genießen. Die Schneeschuhe tönen laut auf dem harten Untergrund. Jeder Vogel, der von Ast zu Ast hüpft, bereichert die kalte, weiße Stille durch fröhliche Farben und Bewegungen.
Das Dorf selbst sieht nicht so unberührt aus. Dutzende Männer kämpfen sich mit Schlitten und Schaufeln durch den Schnee und transportieren ihn ab. Auch Maria ringt vor ihrem Haus mit einer Schaufel. Sie stellt sich nicht besonders geschickt an und weiß das auch.
»Bitte entschuldige«, sagt sie mit einem Blick auf ihre Stiefel. »Leon kann den Schnee nicht selbst wegräumen und ich muss es schaffen, bevor er noch mehr festfriert.«
»Ich«, biete ich an und strecke die Hände nach der Schaufel aus.
Sie rammt die Schaufel tief in eine Schneewehe. »Was, ›ich‹?«
Es fühlt sich wie früher an, als ich jung war und Mutter mich zwang, »bitte« zu sagen. Ich ärgere mich über Maria.
»Ich«, wiederhole ich und imitiere die Bewegung des Schneeschippens. Wenn sie nicht gerne Hilfe annimmt, werde ich ihr nächstes Mal nicht so bereitwillig welche anbieten.
»Ich helfe dir «, korrigiert sie. »Du klingst wie ein Dummkopf. Sprich so, dass es zu deiner Intelligenz passt. Mach von deinen Fähigkeiten Gebrauch. Streck die Zunge.«
Für das l und das d in »helfe dir« müsste meine Zunge die Zähne berühren. Soweit kann ich sie nicht nach vorne schieben. Und doch bin ich wütend genug, um Maria das Gegenteil zu beweisen. Ich schiebe den Stumpf vorwärts.
»Ich heef iir«. Ich lasse sie meine Wut spüren.
»Hervorragend!« Sie strahlt mich an. »Ich glaube, ich habe schon so etwas wie ein d gehört. Versuch es noch einmal. Halte den Laut kurz. Hier auf dem Land verschlucken wir ohnehin viele Konsonanten.«
Ich sehe grotesk aus, wenn ich versuche, meine Zunge zu kontrollieren. Zum Glück gibt es keine Zeugen. Ich schiebe die Zunge so weit nach vorne, dass die Sehnen schmerzen und lockere die Lippen.
»Ich heef iir. Heef-e iir. Heelf diir.«
Kreischend zeigt Maria auf meinen Mund. »Siehst du! Übung! Du brauchst nur Übung! Du wirst nie einen Aussprachewettbewerb gewinnen, aber du kannst dich verständlich machen, wenn du übst. Hier, nimm die Schaufel. Du hast sie dir verdient.« Sie zwinkert mir zu und verschwindet im Haus.
Ich weiß nicht, ob ich mich mit ihr freuen oder die Schaufel fallen lassen und zurück nach Hause gehen
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