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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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zurücklassen?
    Aber einen Winter lang Mutters Verachtung zu ertragen, ist kaum vorstellbar.
    Und dann ist da der Gedanke an dich.
    Ich werde gehen, aber erst im Frühling.
    VI
    Darrel drückt sein Gesicht an die Fensterscheibe. Er freut sich wie ein Kind über den Schnee. Durch seinen Atem beschlägt die Scheibe immer wieder und er wischt sie ständig ab.
    Vom warmen Feuer im Inneren unserer Hütte aus betrachtet, sieht der Schnee großartig aus. Er legt sich über jeden Zentimeter Boden, über jeden Ast. Weiße Reinheit überdeckt den Dreck des Herbstes. Auch ich konnte mich früher so für den Schnee begeistern wie Darrel.
    Hat er schon darüber nachgedacht, dass der Schnee ihn behindern wird? Oder wie er sich darin überhaupt fortbewegen soll?
    »Bring mich raus, Judy. Ich war seit Wochen nicht draußen. Ich will die Schneeflocken schmecken.«
    Mutter ist wohl der Ansicht, dieser Wunsch verdiene nicht einmal eine Antwort.
    Es ist also Zeit für Darrels ersten Ausflug.
    Als Mutter bemerkt, dass ich die Truhe nach Darrels Hut und Schal durchsuche, stemmt sie die Hände in die Hüften.
    »Was gedenkst du zu tun?«
    Ich reiche Darrel eine Hose und helfe ihm beim Anziehen. Ich streife einen Socken über seinen Stumpf, wickele sein Hosenbein darum und binde es mit einer Schnur fest. Er zieht Jacke, Handschuhe und Hut an.
    »Du wirst nicht hinausgehen«, schnaubt Mutter. »Du holst dir den Tod.«
    »Es ist ein Fuß, nicht die Lunge«, antwortet Darrel. »Es ist Zeit, dass ich wieder etwas von der Welt sehe.«
    »Ich verbiete es dir.«
    Darrel streckt die Hand nach mir aus. Ich helfe ihm beim Aufstehen.
    Sein gesundes Bein ist schwach und zittrig. Er klammert sich an meine Schulter und ich umfasse fest seine Taille. Halb hüpfend, halb humpelnd bewegen wir uns hinaus in den Schnee.
    »Dann fall ruhig hin und brich dir noch das andere Bein.« Mutter schlägt die Tür hinter uns zu.
    »Im Winter hatte sie schon immer gute Laune«, bemerkt Darrel.
    Er atmet die Winterluft tief ein. Sie riecht sauber, feucht und süß. Seine Augen sind nach der langen Zeit im dunklen Zimmer nicht an so viel Licht gewöhnt. Er blinzelt. Auf seinen rötlichen Wimpern schmelzen Schneeflocken.
    Ich blicke hinüber zum Fluss, der sich wie ein langer schwarzer Mund über das weiße Gesicht der Erde zieht. Dahinter, außer Sichtweite, liegt dein Haus. Eine Rauchsäule steigt auf. Sie sieht aus wie das offene lange Haar eines Mädchens, das seine Haube nicht trägt.
    Was tust du heute?
    Warum will ich das überhaupt wissen?
    Ich will es nicht wissen.
    Es ist wie eine weitere Amputation. Du warst Teil meines Körpers, bist mir unter die Haut gegangen. Und bald wirst du fort sein. Wie soll ich weiterleben, ohne dich in meiner Nähe?
    VII
    Darrel und ich humpeln weiter. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Einmal scheint sein Bein nachzugeben und ich ziehe ihn fest an mich. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen, sodass es mir ein Leichtes ist, ihn zu stützen.
    »Mather und Hoss fahren bestimmt am Drummond’s Hill Schlitten«, vermutet er.
    Ich nicke. Außer den beiden wird noch ein gutes Dutzend anderer Schuljungen dort sein, sobald die morgendlichen Pflichten erledigt sind.
    »Die Schule fällt heute sowieso aus.«
    Er klappert mit den Zähnen. Mir ist noch nicht kalt, aber er hat einfach nicht genug auf den Rippen, um bei diesen Temperaturen draußen zu sein.
    Ich versuche, ihn zurück zum Haus zu bugsieren, aber er weigert sich. Wenn ich an ihm zerre, fällt er bäuchlings in eine Schneewehe.
    Er sieht mich an, als hätte er gerade erst meine Nase bemerkt.
    »Judy, ich will wieder zur Schule gehen. Das ist meine einzige Chance.«
    Ich blicke in seine blaugrauen Augen. Ich verstehe ihn.
    »Hilfst du mir, zur Schule zu kommen?«
    Meine Gedanken wirbeln durcheinander wie Schneeflocken im Wind. Ob ich ihm helfen werde, etwas aus seinem Leben zu machen? Wer hilft mir denn? Warum glauben alle, dass ich nur wegen meines Makels keinen Anspruch auf Glück habe? Dass ich nichts mehr vom Leben erwarte, keine eigenen Ziele oder Sehnsüchte habe? Wann wurde entschieden, dass Menschen wie ich sich mit einem Schicksal als Stütze der Gesunden zufrieden geben müssen?
    Und welche Gesetze besagen, dass ein Junge ohne Fuß mehr wert ist als ein Mädchen ohne Zunge?
    Aber wenn ich glaube, dass Darrel auch nur zwei Sekunden an mich und meine Wünsche gedacht hat, dann bin ich genau die Idiotin, für die das ganze Dorf mich hält.
    »Was meinst du, Judy?«,

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