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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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soll. Ich helfe dir. Ich helfe dir. »Ich heelf-e dir.« Es klingt immerhin so sehr wie ein l , dass es nicht mit einem anderen Buchstaben verwechselt werden könnte. Ich übe weiter. Das l klingt jedes Mal besser, wenn auch nie so gut wie Marias. Das d ist schwer und feucht, mit einem kleinen Zischlaut am Ende, aber alles in allem ist es ein passables d .
    Maria kommt mit einer zweiten Schaufel. Ich verzeihe ihr. »Ich heelfe dir«, verkünde ich.
    Dann machen wir uns ans Werk. Der Schnee fliegt uns um die Ohren.
    »Welche Wörter mit l kannst du noch sagen?«
    Ich überlege. Ich muss mich beim Sprechen jedes Mal so stark auf die Bewegungen meines Zungenstumpfs konzentrieren, dass ich Angst habe, zu sabbern. »Lllos.« Das war zu viel des Guten. Ich wische mir den Mund ab und versuche es erneut. »Leicht. Lachen.« Maria lächelt. »Lamm. Lu …« Obwohl der Schnee eisig ist, wird mir heiß.
    Maria zwinkert mir zu. »Das ist in Ordnung. Du kannst seinen Namen ruhig laut aussprechen. Es stört mich kein bisschen.«
    Mit Mühe bringe ich meine Mimik unter Kontrolle. Das war knapp. »Lu-cass.« Dann zucke ich die Schultern, als sei dies nur ein Wort unter vielen.
    »Leonh.«
    Maria lächelt.
    XIII
    Der Himmel färbt sich bereits rosa, als ich mich mit einem »bis ball-d« von Maria verabschiede. Sie applaudiert. Heute waren wir gar nicht im Haus, sondern haben einen Weg zur Straße, zu ihrem Feuerholz und zum Schuppen freigeschaufelt. Schüchtern küsse ich sie zum Abschied auf die Wange. Wie lange ist es her, dass ich jemanden geküsst habe?
    Ich will schnell nach Hause, meine Hände und Füße sind klamm. Ich gehe die Hauptstraße entlang. Der Dorfvorsteher Brown unterhält sich auf der Veranda mit Abijah Pratt. Brown schüttelt den Kopf und hört konzentriert zu. Als sie mich kommen hören, verstummen sie. Der Dorfvorsteher grüßt mich mit einem kleinen Kopfnicken. Ich lasse die beiden so schnell wie möglich hinter mir.
    Ich liefere mir ein Wettrennen mit der untergehenden Sonne, die den Weg vor mir leuchten lässt. Von hier sieht es aus, als ginge die Sonne direkt über dem Haus meiner Mutter unter. Und über deinem.
    Als ich vorbeilaufe, lässt du das Holz fallen, das du gerade ins Haus bringen wolltest, und rennst auf mich zu. Du kannst nur die freigeschaufelten Wege benutzen, während meine Schneeschuhe mich über die Schneewehen hinwegschweben lassen. Ich blicke auf dich hinunter, du aber musst den Blick zu mir heben und die Sonne hinter mir blendet dich. Mit roter, tropfender Nase stehst du vor mir. Sehe ich genauso aus?
    »Judith. Bitte geh nicht.«
    Ich sehe mich um. Goody Pruett kann überall sein. Du riskierst eine Strafe, wenn du mich in der Öffentlichkeit mit meinem Vornamen ansprichst. Aber heute ist es noch einmal gut gegangen.
    Du machst einen Schritt zur Seite, um dem gleißenden Sonnenlicht auszuweichen, und siehst mich eindringlich an. Ich bin froh, dass ich diesmal vom Kinn bis zu den Fußspitzen bekleidet bin.
    Du wischst die Nase am Ärmel ab und versuchst es noch einmal: »Gestern Nacht … Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll … Ich wünschte, ich hätte nicht …«
    Ich kann sehr geduldig sein, aber bis du deinen Gedanken beendet hast, könnte die Sonne untergegangen sein. Und so eine Nacht möchte ich nicht noch einmal erleben.
    »Wash denn?« Der Zischlaut an meinem d ist so leise, dass man ihn vielleicht gar nicht bemerkt.
    Du reißt den Kopf abrupt herum. Es sieht lustig aus, wie bei einem Gockel. Eigentlich will ich lachen. Diesmal habe ich dich wirklich überrascht. Das gibt mir Mut.
    »Was isth, Mishder Whidhing?« Ich bin freudig überrascht, weil es sich beinahe natürlich anhört. Obwohl meine Sprache sich fremd anhört, klingt sie doch freundlich und warm. Die Worte haben ihre eigene Musik. Ich klinge nicht abartig. Ich trage die Musik meines Vaters in der Stimme und nicht einmal dein Vater konnte sie mir nehmen.
    Du zuckst wieder mit dem Kopf wie ein Gockel. »Du sprichst«, stellst du recht dümmlich fest – falls du mir diese Bemerkung gestattest.
    Ja, nicke ich. Ganz offensichtlich. Du bist sichtlich verwirrt. Ich genieße es.
    Ich überlege fieberhaft, welche Laute ich bilden und welche ich nicht bilden kann, welche Worte ich sagen und welche ich nicht sagen kann. Ich suche nach dem besten Weg, dieses Gespräch zu beenden. Doch plötzlich ist mir das nicht mehr wichtig. Ich schäme mich nicht mehr. Ich träume nicht länger davon, dir zu gefallen, also kann ich sagen,

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