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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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grinst er mich an.
    Darrel denkt noch immer an seine Zukunft und das sollte er auch. Zumal er recht hat. Mutter wird alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn am Schulbesuch zu hindern. Aber was soll ein Krüppel ohne Bildung machen?
    Nicht viel, wie ich nur zu gut weiß.
    Doch wenn ich verspreche, ihm zu helfen, bin ich hier eingesperrt und du wirst immer in der Nähe sein, um Salz in meine offenen Wunden zu streuen.
    Den Winter über bin ich hier gefangen. Im Frühling sind wir mobiler. Darrel kann mit einer Krücke zur Schule gehen und ich kann in mein neues Haus ziehen.
    Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?
    Vielleicht könnte ich irgendwie an Bücher gelangen und sie in die Hütte des Colonels mitnehmen? Kann ich gut genug lesen lernen, bevor der Winter vorbei ist?
    Ich werde nicht Darrels Krücke sein. Ich treffe eine Entscheidung. Wenn ich hierbleiben muss, so will ich daraus einen Nutzen ziehen. Ich räuspere mich.
    »Du …«, sage ich. Darrel staunt. »Du … gehs. Ich geh. Ich le – « Ich kämpfe mit dem Wort. Schließlich stammele ich »Leesse«.
    »Judy!«
    Er sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Seit er meine Stimme zum letzten Mal gehört hat, sind viele Jahre vergangen.
    »Ich will leesse.« Ich versuche es noch einmal. »Lesenn.« Ich drücke den Stumpf meiner Zunge nach vorn. »Llesenn leenen. Du hilf mir … lesenn leenen.« Jedes Wort verlangt meine volle Konzentration.
    Darrel sieht aus, als habe er einen Engel gesehen. »Du willst, dass ich dir beim Lesenlernen helfe.« Er ist unglaublich stolz auf sich selbst. Mein Bruder, das Genie. »Ich habe schon gesehen, wie du geübt hast. Aber – Judy!«
    Er grinst. »Du kannst ja sprechen!«
    Ich schaue ihn böse an. Er macht einen kleinen Rückzug. »Wenigstens ist es ein Anfang … Mutter will nicht, dass du sprichst, stimmt’s?«
    Ich schüttele den Kopf und zucke die Schultern. Mutter wird mein Leben nicht mehr lange bestimmen.
    Er beißt sich auf die Lippen. »Sie will nicht, dass ich zur Schule gehe. Oder dass ich dir das Lesen beibringe.«
    Ich zucke erneut die Schultern. »Du wills geeh, du hilfs mir lesenn.«
    Er nickt.
    Ich vollführe Schreibbewegungen in der Luft. »Un schreibn.«
    Ja.
    »Kannst du nicht schreiben?«
    Ich schüttele den Kopf.
    Er nickt langsam. »Es ist zu lange her, deshalb kannst du dich kaum noch an etwas erinnern.« Mit leuchtenden Augen fasst er einen Plan: »Wir machen es so: Du bringst mich zur Schule, bleibst dort und hörst dem Unterricht zu. Du gehst einfach mit den anderen Mädchen in die Klasse. Und zu Hause helfe ich dir. Einverstanden?«
    »Jaa.« Um den Handel zu besiegeln, schubse ich ihn in eine Schneewehe.
    Aus dem Schneehaufen, der ihn halb bedeckt, dringt laut sein Lachen und prallt an den kahlen, grauen Stämmen der Bäume ab.
    VIII
    Am Nachmittag lässt der Schneefall nach, die Sonne scheint und unser Haus wärmt sich bis zum Abend richtig auf. Ich sitze am Feuer, nähe und denke an letzte Nacht, als noch kein Schnee lag. In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit war ich um Mitternacht im Nachthemd über das trockene Laub zu dir gelaufen.
    Ich denke daran, wie sich der Ausdruck in deinen Augen veränderte, und frage mich, was das bedeutet.
    Aus Versehen ramme ich mir die Nadel in die trockene Haut an meinem Knöchel. Als ich sie herausziehe, blutet es leicht.
    IX
    Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?
    Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.
    Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke, wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe.
    X
    Am nächsten Morgen will ich dick in Tücher und Schals gehüllt zum Melken nach draußen gehen. Die Tür lässt sich kaum öffnen. Als es mir endlich gelingt, bleibe ich wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
    »Was ist los?« Mutter eilt zur Tür, um sie hinter mir zu schließen.
    Ich deute auf den Boden vor unserem Haus. Er ist mit Fußspuren übersät. Vor dem Haus, unter jedem Fenster, überall sind Fußabdrücke.
    »Gott steh uns bei«, sagt Mutter. Sie zieht mich zurück ins Haus und schließt die Tür.
    XI
    »Es könnte der junge Whiting gewesen sein.« Mutter späht durch die geschlossenen Fensterläden nach draußen. Ich zeige keine Gefühlsregung. An den nach innen gekehrten Fußabdrücken habe ich erkannt, dass du es nicht warst. Aber wer es auch war trug große Stiefel.
    »Oder es war jemand aus dem

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