Ich bin die, die niemand sieht
verrückt nach dir. Ich aber sollte es besser wissen.
Die Nacht zieht sich in die Länge.
»Glaubst du, er wird dich heiraten?«
Mutter. Meine Muskeln krampfen sich zusammen.
»Dieser Mann. Oder Junge. Der, zu dem du immer gehst.«
Ich liege reglos da. Sie glaubt, ich träfe mich in irgendeiner Scheune mit einem Liebhaber. Meine eigene Mutter.
Sie spricht ruhig und leise. Der Vorhang dämpft ihre Stimme und lässt sie geisterhaft klingen. »Oder ist er schon verheiratet?« Als wäre sie eine Freundin, die in der Kirche mit mir tuschelt.
Kann ich so tun, als schliefe ich? Nein, sie weiß, dass ich wach bin.
»Wenn du eine Dirne sein willst, dann such dir ein anderes Haus.«
Ich gestatte mir kaum zu atmen, damit kein Geräusch irgendein Gefühl verrät, an dem sie sich festbeißen kann.
»Ich hoffe um deinetwillen«, fährt sie fort, »dass er dich heiraten kann und will.«
II
In den Jahren mit ihm habe ich gelernt, wie man weint, ohne einen Laut von sich zu geben. Hauptsächlich habe ich gelernt, wie man nicht weint.
Aber meine Mutter hat ein Bruchstück meiner Gefühle gefunden, von dessen Existenz ich nichts wusste. Und sie hat es zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht.
Dass sie, die mich jeden Tag sieht, so etwas von mir denken kann, schmerzt im tiefsten Inneren und verletzt Erinnerungen an mein früheres Leben und an meine Mutter, die ich bewahrt hatte. Erinnerungen an die Zeit, bevor er mich entführte und verstümmelte.
III
Ich kann hier nicht mehr leben.
Dann fällt mir wieder ein, dass ich das ohnehin nicht wollte. Ich werde in die Hütte des Colonels ziehen. Morgen. Und Mutter ist nicht der Grund für meinen Abschied. Du bist es.
Das Loslassen tut auf seltsame Weise gut. Nach all dem Leid bringt es ein Gefühl der Betäubung und auf die Betäubung folgt Klarheit. Als sähe ich die Welt, meinen Platz und meine Zukunft in ihr zum ersten Mal und unabhängig von dir. Die Aussichten sind nicht großartig, aber real und solide, anders als die Fantasiewelt, die ich um dich herum aufgebaut habe.
Ich werde es tun. Ich werde dich vergessen.
IV
»Steh auf, Schlafmütze«, bellt Mutter mir ins Ohr. »Es ist Winter und der Morgen ist kurz.«
Verwirrt richte ich mich auf. Wann bin ich eingeschlafen? War ich gestern Nacht wirklich bei dir? Hat Mutter wirklich mit mir gesprochen? Sie wirkt wie immer – habe ich geträumt, dass sie mich aus dem Haus geworfen hat?
Tatsächlich ist die Sonne schon aufgegangen. Das Licht ist heute anders als sonst. Unsere hölzernen Wände und Türen wirken blasser und neuer
Ich blicke aus dem Fenster.
Schnee! Schwer und tief und noch immer schneit es.
Deshalb das seltsame Licht und die Stille, die mich länger als üblich schlafen ließ. Selbst den Sonnenaufgang habe ich nicht bemerkt.
Mutter öffnet die Truhe mit den Wintersachen. Mützen sind darin, Handschuhe und Schals. Ich packe mich warm ein, nehme den Eimer und gehe zur Scheune. Die Kuh will gemolken werden, ob es schneit oder nicht.
Ich füttere Mensch und Fee mit Heu, melke und miste aus. Als ich aus der Scheune zurückkomme, sind meine Fußabdrücke schon beinahe nicht mehr zu sehen. Im Schneetreiben versuche ich, den Stapel mit Brennholz zu erkennen. Für wie viele Tage reicht unser Holz? Falls der Sturm lange dauert, ist es nicht genug. Das war immer Darrels Aufgabe.
Aber warum sollte ich mir Sorgen machen, ob Mutter genug Holz hat?
Ich bringe ihr die Milch, dann stapfe ich hinüber zum Hühnerstall. Meine Knöchel sind feucht, der Schnee ist beißend kalt. Ich öffne die Klappe. Die Hühner sind vernünftig und bleiben im Stall. Ich gebe ihnen Futter und Wasser, sammle die Eier ein, miste aus und lasse den Dreck liegen, wohin er gerade fällt. Der Schnee wird den Geruch zudecken.
Als ich wieder zum Haus komme, ist der Eingang verschlossen. Erfolglos klopfe und rüttele ich an der Tür. Erst als ich wieder und wieder gegen das Holz schlage, öffnet Mutter – ohne Erklärung.
Ich brauche auch keine.
V
Ich ziehe die nasse Kleidung aus und setze mich ans Feuer zu Darrel, der seinen Stuhl mühsam beiseiteschiebt, um mir Platz zu machen.
Die großartigen Pläne von letzter Nacht sind angesichts des Wetters nichts mehr wert. In diesem Sturm würde ich die Hütte kaum erreichen, geschweige denn dort überleben. Und selbst wenn der Schnee in zwei Tagen schmilzt, bin ich noch nicht in der Lage, dorthin überzusiedeln. Was sollte ich essen? Woher bekäme ich Feuerholz?
Und wie kann ich Darrel hier
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