Ich bin die, die niemand sieht
Männer in Roswell Station – und überall sonst – zählen das Denken normalerweise nicht zu den weiblichen Tugenden. Und doch … Ich denke an Vater. Er war stolz auf Mutters starken Willen und scharfen Verstand. Vielleicht bin ich mit meinem Urteil zu vorschnell.
»Mutter freuth sich gar nicht über Fee.«
»Ach?«
»Sie brauchth zuviel Futther.«
»Hm.«
Wir halten vor dem Schulhaus. Rupert Gillis späht durc h eine verschmierte Fensterscheibe nach draußen. Darrel wird von zwei Freunden gepackt und in die Schule geschleppt.
»Du könntest Fee bei mir unterstellen«, schlägst du vor.
Mein Gewissen plagt mich. Ich hätte sie dir von Anfang an geben sollen.
»Sie sollte dir gehören.«
»Nein, sie gehört dir. Aber ich kann sie unterbringen. Und du kannst sie so oft besuchen, wie du willst.«
Ich habe das Angebot bereits angenommen, bevor ich deine Worte richtig verstehe. Wenn du sie nimmst, verliere ich sie nicht. Und ich will Fee nie verlieren.
Jip kommt zu uns nach vorne und leckt dir übers Gesicht. Du verscheuchst ihn und hilfst mir vom Wagen.
»Sei aber nicht böse, wenn ich Fee frage, was sie sieht, wenn sie deine Gedanken liest.«
XXXIV
Rupert Gillis zeigt keine Reaktion, als ich mich wieder zu den Zwillingen setze. Den ganzen Morgen über verhält er sich, als sei alles wie immer. Er kommt an meinen Platz, korrigiert meine Arbeit, gibt mir neue Übungen und Wörter zum Abschreiben. Er trägt mir nichts auf, was zu schwer für mich ist. Gleichgültig gibt er mir Anweisungen und geht weiter zum nächsten Schüler.
Ich glaube, ich habe gewonnen. Vielleicht war das gestern nur ein leichtsinniger Versuch, den er inzwischen aufgegeben hat. Von nun an sind wir nur noch Lehrer und Schülerin und ich kann lesen lernen. Ich kann schon etwas besser schreiben und bin in meiner Fibel mehrere Lektionen voraus.
Am Mittag schickt er die Schüler hinaus und ruft mich als Einzige ans Pult. Ich nehme mir vor, weder durch mein Gesicht noch durch meinen Körper etwas preiszugeben.
»Gestern hatte ich Besuch, Miss Finch. Interessanterweise ging es dabei nur um Sie.« Er wartet auf eine Reaktion, dann fährt er fort. »Zunächst kamen Mr und Mrs Robinson, deren Töchter neben Ihnen sitzen. Mrs Robinson hat sich gegen Ihre Anwesenheit in der Schule ausgesprochen. Sie behauptet, Sie hätten einen unmoralischen Einfluss auf ihre Töchter. Ihr Gatte teilt diese Bedenken.«
Robinson. Eunices jüngere Schwestern. Ich täusche ein Husten vor.
»Das brachte mich in eine unangenehme Situation. Natürlich versuchte ich, die beiden zu beruhigen. Denn ich sehe wirklich nicht, was an Ihrer Anwesenheit in dieser Klasse unmoralisch sein soll. Aber es war schwierig, die Vorwürfe bezüglich Ihrer Tugendhaftigkeit zu entkräften.«
Nun war es ihm doch gelungen, mich zu überraschen.
Mein Gesichtsausdruck hat sich verändert. Er nimmt es zur Kenntnis.
»Der andere Besucher war, so scheint es, Ihr Freund und Beschützer. Er bediente sich einer Sprache, die einem Gentleman schlecht zu Gesicht steht, und verlangte, dass ich Sie im Unterricht gut behandele.«
Mir dreht sich der Magen um. Warst du das? Hast du dich beim Lehrer für mich eingesetzt?
Vielleicht hat ein Kind zu Hause erzählt, dass ich schlecht behandelt wurde, und dessen Vater sprach aus christlicher Nächstenliebe für mich vor?
Aber das glaube ich nicht.
»Einige kämpfen für Sie, andere gegen Sie. Sie sind eine umstrittene Frau.« Er steht auf. »Geistig bist du nicht zurückgeblieben, Judith.« Er geht um den Tisch herum. »Für dein Alter liegst du weit zurück, aber du könntest noch viel lernen, wenn du mehr Unterricht hättest.«
Er steht jetzt ganz dicht vor mir.
»Ich könnte dir helfen. Ich könnte dich heute Abend ausführlich anleiten. Bei mir zu Hause. Wenn du kommst.«
Seine bebrillten Fischaugen sehen mich unmissverständlich an.
Ich trete zurück, aber er packt mich am Handgelenk. Für einen so dünnen Mann hat er einen überraschend starken Griff. Ich schüttele den Kopf und versuche, seinen Griff zu lösen.
»Das Verhalten einer Jungfrau«, spottet er. »Doch wir beide wissen es besser.« Ich kann die Hitze seines Körpers durch die Wollkleidung spüren. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich brauche. Ich habe dich gesehen, als du mitten in der Nacht kaum bekleidet aus Lucas Whitings Hütte kamst.«
Nein. Oh nein nein nein.
Er weiß, dass er diesmal ins Schwarze getroffen hat. Er hält immer noch mein Handgelenk umklammert.
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