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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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könnten sie noch dort finden?«
    Sein Haus. Wenn sie die Hütte finden, nehmen sie sie mir weg. Vielleicht zerstören sie sie. In jedem Fall wird sie kein versteckter Rückzugsort mehr sein. Was sie dort finden könnten? Mir fällt nichts ein außer ein paar Töpfen, Werkzeugen und Kleidungsstücken. Und natürlich die Reste des Arsenals.
    Ich gehe Richtung Wald.
    Wenn ich im Frühling nicht in die Hütte kann, was wird dann aus mir?
    Im Licht der aufgehenden Sonne gehe ich zur Lichtung. Ich setze mich auf Vaters Felsen. Meine Beine berühren den eiskalten Stein.
    Ich werde also bis ans Ende meiner Tage mit Mutter und Darrel zusammenleben. Ich kann nirgendwohin gehen. Wir drei gehören zusammen. Wir sind alle drei ruiniert.
    Du betrachtest mich. Ich verstehe deine Sorge. »Mach dir keine Gedanken«, sage ich. »Dort ist nichths, das ihn belasten könnte.«
    Und damit habe ich es dir gesagt.
    Du nickst und presst die Lippen zusammen. Ja. Jetzt weißt du es. Aber du wusstest es bereits.
    XLII
    Du setzt dich neben mich. Der Felsen ist eiskalt. Wir rutschen eng zusammen, um uns gegenseitig zu wärmen.
    »Ich habe angeboten, mit ihnen zu gehen. Aber sie haben abgelehnt. Sie glauben, ich würde sie auf eine falsche Fährte locken. Als wüsste ich, wo sich mein Vater all die Jahre versteckt gehalten hat! Hätte ich es gewusst, dann …«
    Wärst du zu ihm gegangen? Hättest du ihn überredet, zurück nach Hause zu kommen?
    Dein Gesicht ist dem meinen so nah, dass ich es nicht ganz in den Blick nehmen kann. Ich sehe nur deine Lippen.
    »Ich habe nach ihm gesucht. Bei Gott, so oft habe ich ihn gesucht.«
    Daran habe ich noch nicht gedacht. Ich stelle mir den sehnigen Jungen vor, der den Wald nach seinem Vater durchsucht. »Nachdem er verschwandh?«
    »Nein. Nachdem du verschwunden warst.«
    Das verstehe ich nicht. Verwirrt sehe ich dich an. Durch den eisigen Wind hindurch spüre ich die Wärme deines Atems.
    »Als er ging, dachte ich, er sei tot. Als Lottie verschwand, begann ich, mir gewisse Fragen zu stellen. Und als du verschwandst, begann ich zu suchen.«
    Wie oft habe ich geträumt, du kämest, um mich zu retten? Ich wusste nicht, dass es dir beinahe gelungen wäre. Es ist unser beider Schicksal, dass wir uns immer knapp verpassen.
    Meine Zähne klappern. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, hast du den Arm um mich gelegt. Mein Kopf lehnt an deiner Wange.
    Ich sollte das nicht zulassen, aber du bist so warm. Und wir kennen uns schon so lange.
    »Verzeih mir, Judith.« Ich spüre deine Worte eher, als dass ich sie höre. »Ich war ein Narr.«
    Meine Haube löst sich. Du nimmst sie ab und wirfst sie ins Gras zu deinem Hut. Du nimmst mein Gesicht in beide Hände und siehst mir in die Augen. Ich suche Zweifel in deinem Blick und finde keinen. Und in mir finde ich keinen Widerstand mehr.
    Du lehnst deine Stirn an meine, küsst mich auf die Stirn. Du vergräbst deinen Mund in meinen Haaren.
    »Gib mir noch eine Chance. Lass mich deine Stimme hören, Marienkäfer. Immer.«
    Tränen tropfen in meinen Schoß. Ich bin wieder ein Kind, das Würmer für dich ausgräbt und dir beim Fischen zusieht. Ich bin ein Mädchen, das bald erwachsen wird und davon träumt, deine Hand zu halten. Ich bin eine junge Frau, die entführt und auf viele Arten verletzt wurde. Ich bin eine erwachsene Frau, verflucht und ausgestoßen, die zusehen muss, wie du dich für immer von ihr entfernst.
    Und jetzt hier, jenseits aller Hoffnung, sitze ich auf einem kalten Felsen und du sagst mir – was versuchst du mir zu sagen?
    Während ich weinte, hast du mich auf den Schoß genommen. Du hältst mich fest umschlungen. Noch einmal sind wir in diesem Wald, eng aneinandergeschmiegt, und diesmal sind wir beide wach. Das Gefühl deiner Arme um meinen Körper allein würde mir schon genügen.
    Was bedeuten all diese Jahre? Habe ich meine Gefühle verschwendet?
    Ich muss es sagen. »Ich habe dich zu lange geliebt, Lucass.«
    Du küsst meine Wange, meine Stirn, mein Kinn.
    »Zu lange? So etwas gibt es nicht.«
    Ich sehe dich an. »Was?«
    »Zu lange gibt es nicht.« Du lächelst mich an. Ich weiß nicht, wann ich dich je so glücklich gesehen habe. Jedenfalls nicht, seit du ein kleiner Junge warst.
    »Für mich ist es ganz neu, aufzuwachen und zu merken, dass ich dich seit Jahren liebe.«
    Ich will widersprechen. Ich darf dir das nicht glauben. Aber ich tue es. Ich bin ganz sicher. Ich kann dir glauben.
    Aber das heißt nicht, dass du keinen Preis dafür zahlen musst.

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