Ich bin die, die niemand sieht
machtest.
»Die Welt ist grausam«, stellst du fest. »Warum musste das geschehen? Und warum dir?«
Fee stupst mich mit der Nase in den Rücken. Auf solche Fragen habe ich keine Antwort.
Mit feuchten Augen bekennst du: »Ich habe mich davon beeinflussen lassen.«
Ich nicke und wende den Blick ab. Jetzt kann ich wieder atmen. Es ist vorbei.
Danke, dass du mir gegenüber ehrlich warst.
Es ist gut, dass du all das gesagt hast. Was du mir heute Abend gegeben hast, wird mir bei der Heilung helfen. Ich weiß jetzt, dass ich dir all das vergeben kann. Die entzogene Zuneigung, die Hinwendung zu Maria, die verletzenden Fragen über deinen Vater. Du bist nur ein Mensch, genau wie ich.
Du bist ein guter Mann, Lucas. Ein warmherziger und anständiger Mann. Es gibt Unglücke, die unsere Hoffnungen zerstören. Und das ist alles. Vielleicht wären wir erwachsen geworden, hätten geheiratet und wären zusammen glücklich gewesen. Vielleicht wären meine Mädchenträume und deine jugendlichen Fantasien wahr geworden. Aber es kam zur Tragödie. Wir sind nicht die ersten, denen so etwas zugestoßen ist.
Ich glaube, heute Abend hast du Mitleid und Schuldgefühle mit Zuneigung verwechselt. Die Einsamkeit hat dich durcheinandergebracht. Gott weiß, dass auch ich wegen dir lange Zeit durcheinander war.
Ich vergebe dir, Lucas. Und ich wünsche dir alles Gute.
Meine Traurigkeit und meine Scham verfliegen. Ich kann mir selbst vergeben, dass ich mich vor dir zur Närrin gemacht habe. Ich bin dir gegenüber nicht mehr verlegen. Mein Körper ist leer und die Leere ist wie eine Befreiung.
XXXVIII
Ich reiche dir die Hand in Frieden und Freundschaft. »Danke. Das war freundhlich von dir. Du kannst jetzth gehen. Mutter kommt baldh.«
Du nimmst meine Hand. »Ich bin noch nicht fertig«, sagst du verwirrt. »Ich bin gekommen, weil –«
»Ein andermal«, unterbreche ich ihn. Wir hören die Haustür knallen. Ich deute auf die Hintertür der Scheune. »Schnell, dort hinaus und durch den Wald, oder Mutter sieht dich.«
Ich schiebe dich in Richtung Tür, aber du weigerst dich. »Judith, bitte, ich muss dir etwas sagen.«
»Geh!«, zische ich. »Später!«
Doch in der letzten Sekunde tust du genau das nicht. Statt zu gehen, springst du in den Verschlag der Kuh. Geräusch und Geruch hätten mir auch ohne dein unterdrücktes Lachen verraten, worin du gelandet bist.
Auch ich muss lachen.
Als Mutter die Scheune betritt, verstummen wir beide.
»Du hast also mein Messer.«
»Hm-mh.«
Sie schnuppert. »Bäh! Hast du heute nicht ausgemistet?«
Ich darf jetzt auf keinen Fall lachen. »Hm-mh«, lüge ich. Sie darf auf keinen Fall nachsehen.
»Hier ist es so dunkel, dass man kaum etwas sieht. Warum brauchst du so lange? Dein Wasser kocht schon eine ganze Weile.«
Ich weiß, dass sie keine Antwort erwartet. Auch gut.
»Diese Mähre können wir nicht behalten. Bestimmt hat dieser Whiting genug Geld, um sie uns abzukaufen?«
»Mmmh.« Ich betone den Laut so, dass er »weiß nicht« bedeutet.
»Wenn er sich Maria Johnson leisten konnte, kann er sich auch ein Pferd leisten. Wenn ich ihn das nächste Mal treffe, werde ich ihn fragen. Beeil dich jetzt und bring die Kürbisse. Sonst isst dein Bruder noch die Tischdecke.«
Du kauerst in einem Kuhfladen und musst das alles mit anhören. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder stöhnen soll.
Endlich geht Mutter wieder ins Haus.
»Du kannsth rauskommen«, flüstere ich.
Mit einem breiten Grinsen kletterst du aus der Box. »Ich kann mir Fee also leisten?«
»Ich weiß nicht.« Ich bin mutig. »Konntest du dir Maria Johnson leisten?«
Angesichts deines zerknirschten Gesichts muss ich lachen.
»Gute Nacht, Lucass. Bis morgen.«
Eigentlich hättest du gerne das letzte Wort gehabt, aber du gehst tatsächlich.
»Lucass?«, rufe ich dir nach.
Du drehst dich um.
»Putz deine Schuhe.«
Dann bringe ich die Kürbisstücke ins Haus und bereite das Abendessen zu.
XXXIX
Mutter schickt mich zurück in die Scheune, weil ich das Messer vergessen habe.
Ich fühle mich seltsam leicht, als sei ich ein Herbstsamen, den der Wind durch die Luft trägt. Eine Last wurde von mir genommen und nun kann ich mich wieder frei bewegen.
Ich umarme und küsse Fee und dann Mensch, damit sie sich nicht schlecht behandelt fühlt. Sie hat einen besseren Namen verdient als Mensch.
Natürlich. Io, die wunderschöne Kuh.
Ich hole das Messer und mache mich auf den Rückweg, den ich auch blind zurücklegen könnte. Tief atme ich
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