Ich bin die, die niemand sieht
lege die Axt beiseite und bringe Fee ein Stück Kürbis. Sie schlingt es hinunter. Ihre Nüstern suchen meine Hände nach mehr ab. Ich lege meine Wange an ihren Kopf. Was meinst du, Mädchen? Wärst du glücklich bei Lucas?
Fee knabbert an meiner Wange und gibt mir einen kleinen Schubs. Und da stehen wir plötzlich, Seite an Seite, und streicheln ihr gesprenkeltes Fell. Du beginnst, sie zu striegeln, also nehme ich einen Kamm und bearbeite ihre Mähne.
»Sie wird sich bei dir wohlfühlen. Nimm sie heuthe mit. Mutter wirdh sich freuen.« Ich lächele tapfer, aber bei der Vorstellung, Fee nicht mehr allmorgendlich in der Scheune zu sehen, wird mein Herz schwer.
Du stehst so dicht neben mir, dass wir uns beinahe berühren.
Mein Körper spannt sich an. Ich warte darauf, dass du zur Seite gehst.
Und dann stehst du mit einem Mal hinter mir und berührst mich, während du Fee langsam weiter striegelst.
Was geschieht hier?
Du hörst auf, lässt den Striegel fallen und lehnst dich an mich. Du vergräbst dein Gesicht in meiner Haube und umfasst von hinten meine Arme.
Ich bin so verwirrt, dass ich Panik bekomme.
»Nein!«, sage ich.
Du machst sofort einen Schritt zurück und senkst beschämt den Blick. Du gehst. Als du schon an der Tür bist, rufe ich:
»Warum?«
Du hältst inne. »Warum was?«
Ich versuche zu atmen und nicht zu weinen. Ich kann kaum begreifen, was gerade geschehen ist, aber ich muss wissen, warum. Einst hätte ich alles gegeben für eine Berührung von dir. Dein Vater hat meine Jugend beendet, aber erst Rupert Gillis hat mir die Augen geöffnet. Ich will nicht von Männern bestimmt werden, die irgendetwas anfassen wollen. Ich bin nicht leicht zu haben, nur weil sie glauben, dass mich vorher schon jemand hatte.
Ich hasse es, so etwas von dir zu denken. Wenn wir je Freunde, Nachbarn und Kinder zusammen waren, dann zeige mir, dass du mich nicht grausam missbrauchen wirst, auch nicht aus Eigennutz.
Deshalb will ich wissen, warum.
»Warum ich?« Ich hole Luft. »Warum das hier?«
Ich zwinge dich, mich anzusehen. Ich lasse deinen Blick nicht los.
Wir hören nur Fees Atmen und das Wiederkäuen der Kuh.
»Du warst es schon immer, Marienkäfer«, sagst du sanft. »Wusstest du das nicht?«
XXXVII
Nichts kann meine Tränen jetzt zurückhalten.
Du kannst den Anblick nicht ertragen, machst einen Schritt auf mich zu, streckst die Hand nach mir aus.
Ich trockne die Augen mit der Schürze.
»Aber was ist mit Maria?«
Du nickst. Diese Frage musst du mir gestatten.
»Das mit Maria tut mir leid. Aber mir tut nicht leid, dass es zu Ende ging. Jetzt nicht mehr.« Du siehst mich flehend an. »Verzeih mir, Judith.«
Dir verzeihen? »Wofür?«
Das ergibt keinen Sinn. Wer kann dir einen Vorwurf dafür machen, um Maria geworben zu haben? Wer kann irgendjemandem vorwerfen, ihrem Charme zu erliegen?
»Maria ist wundervoll«, stelle ich fest. »Sie ist sehr schön und freundhlich.«
Du lächelst traurig. »Leon kann sich glücklich schätzen.«
Mit dieser Antwort gebe ich mich nicht zufrieden. Wie kannst du behaupten, ich sei es schon immer gewesen? Du musst dich erklären.
Stockend fährst du fort: »Maria hat es verdient, glücklich zu sein. Aber ihr Herz hat nie mir gehört und ich weiß jetzt, dass meines auch nie ihr gehörte.«
Ich versuche zu begreifen, zu denken, zu fühlen, zu vergeben und aufrecht stehen zu bleiben.
»Ich war unfair zu ihr und unaufrichtig zu mir selbst.« Du fährst dir mit den Fingern durchs Haar. »Judith, seit wir Kinder waren habe ich auf den Tag gewartet, an dem ich dir das sagen kann.«
Was geschieht hier nur? Bist du heute wirklich hergekommen, um mir den Hof zu machen?
Ich lehne mich an Fees Box. Wie oft habe ich davon geträumt, dass du eines Tages nur einen winzigen Teil dessen für mich fühlen würdest, was ich für dich fühle? Aber das, was du noch nicht gesagt hast, überwiegt alles, was du bisher gesagt hast.
»Und meine Zsunge? Meine Sprache?«
Immer noch wendest du den Blick nicht ab. Ich warte auf die kleinste Zuckung. Stattdessen kommst du noch näher, um den Abgrund zu überwinden, der sich noch immer zwischen uns auftut. Ich werde dir nicht gestatten, ihn zu überqueren.
Du kannst diese Prüfung nicht bestehen und zugleich die Wahrheit sagen. Was willst du antworten? Dass es dir ganz gleichgültig ist, wie meine Stimme klingt? Dass es dir egal ist, ob ich verstümmelt bin oder nicht? Denn es war dir nicht egal gewesen, als du Maria den Hof
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