Ich bin die Nacht
war leer und groß genug für sie, und es war ihre einzige Möglichkeit. Sie kroch hinein und versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, Ackerman könnte sie allein dadurch finden.
Sie spürte, dass er näher kam. Panik erfasste sie.
Dann dachte sie an Ashley, ihre Tochter, und der Gedanke verlieh ihr neue Kraft. Der Verlust des Vaters und das Trauma, das Ashley erlitten hatte, mussten sie tiefgreifend verändert haben. Ashley brauchte ihre Mutter, und Emily schwor, dass nichts auf der Welt sie auseinanderreißen würde.
Doch als Emily die Stimme hörte, zerbröckelte ihr Mut, und ihr Inneres schien zu Eis zu gefrieren.
»Hallo, Emily. Ich sehe dich.«
60.
Travis Depaolo starrte in die Dunkelheit. Wie es aussah, hatte der Killer die letzten Baustellenlampen gelöscht. Travis verfluchte sich selbst. Er kam sich wie ein Feigling vor. Er musste die Sache in Ordnung bringen.
Er ließ die Taschenlampe aus und lauschte.
Die völlige Dunkelheit vermittelte ihm das beängstigende Gefühl, in der Leere des Alls zu schweben und in den Schlund eines Schwarzen Loches zu blicken. Mit dem nächsten Schritt nach vorn, fürchtete er, könnte er sich in die Arme des Vergessens werfen. Dennoch ging er weiter.
Emily Morgans Zimmer lag von seinem alten Posten am Empfangspult aus gesehen auf der anderen Seite des Flurs links hinten. Travis wünschte sich inständig, er könnte die Taschenlampe einschalten und seinen Weg ausleuchten, aber er wusste, dass der Killer ihn dann sofort entdecken würde. Er würde damit den Tod auf sich ziehen wie eine Fliege, die sich im Netz der Spinne bewegt und sie dadurch herbeilockt.
Travis durchquerte den Gang, verfehlte jedoch die Tür und tastete blind nach dem Eingang. Schließlich fand er die Öffnung und ging hinein. Er schloss die Tür fast ganz hinter sich, damit kein Licht in den Gang fiel. Dann schaltete er die Lampe ein.
Verzweiflung packte ihn, als der Strahl auf ein leeres Bett fiel. Die Laken waren beiseitegeschlagen. Schläuche, die in Kanülen endeten, lagen auf dem Boden.
Der Killer hatte sich sein Opfer geschnappt.
Er war zu spät gekommen.
Travis kämpfte Schuldgefühle und Angst nieder. Vielleicht hat sie ja aus dem Zimmer fliehen können.
Er löschte das Licht und öffnete die Tür, lauschte in die Dunkelheit.
Diesmal hörte er ein Wispern im Flur. Dann erklang eine Stimme über das Geraune hinweg und hallte von den Wänden wider. Es hörte sich an, als lebte eine Legion der Verdammten dort draußen in der Finsternis. Die Stimme wiederholte Emily Morgans Namen.
Travis rückte in Richtung der Stimme vor. Zuerst ließ er die Taschenlampe aus, doch er wurde sich der Gefahr bewusst, dass er sich ohne Licht genau auf den Killer zu bewegte oder an ihm vorbeilief, ohne es zu merken.
Er knipste die Taschenlampe an, wartete einen Moment, bis seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, und visierte mit der Waffe parallel zum Lichtstrahl. Dann rückte er weiter vor, wobei er seinen ermordeten Kollegen nachahmte, indem er in jeder Türöffnung Deckung suchte.
Er ahnte nicht, dass er sich genau auf den Tod zu bewegte.
61.
Ackerman betrachtete Emily Morgan, wie sie im fahlgrünen Licht zitterte.
Lange Zeit waren Nachtsichtbrillen kostspielige Hightech-Geräte gewesen, die man bei dubiosen Versandhändlern oder in Militärausrüstungsläden erwerben konnte. Heutzutage bekam man sie für weniger als hundert Dollar im Spielwarengeschäft. Die schwarze Brille war für Kinder gedacht, aber die Riemen ließen sich größer einstellen, sodass die Brille auch einem Erwachsenen passte. Das Gerät war nicht gerade eine Militärausführung und blieb in Reichweite und Auflösung weit hinter den teureren Modellen zurück, aber für seine Zwecke genügte es.
Die Verbände um Emily Morgans Kopf weckten in Ackerman die Erinnerung an ein kleines dunkelhaariges Mädchen vor langer Zeit. Es war sein erster Mord gewesen. Er sah das bleiche Gesicht der Kleinen noch deutlich vor sich und den weißen Verband um ihren Kopf.
Befreie sie, Francis. Drück ab, hatte sein Vater ihn gedrängt und ihn mit dem Messer bedroht. Wenn du nicht gehorchst, schneide ich dich.
Ackerman wusste noch genau, wie er die Pistole gehoben hatte.
Er hatte nicht geglaubt, dass das Mädchen tatsächlich sterben musste. Schließlich hatte sein Vater das gleiche Spiel schon einmal mit einem anderen Opfer getrieben, einer kleinen Blonden, die eine Augenbinde getragen
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