Ich bin die Nacht
die Stille zerrissen. Als sie die Schüsse hörte, hatte sie sich die Infusionsnadeln aus den Armen gezogen und war aus dem Krankenbett gestiegen. Nun stützte sie sich an den Türrahmen, denn die Welt wogte wie Wellen auf dem Meer, hob und senkte sich rhythmisch. Ihre Beine fühlten sich an, als gehörten sie einer Fremden, und statt zu gehen, schien sie zu schweben. Emily fragte sich, ob diese Desorientierung von ihrem Schädeltrauma herrührte oder von Dr. Callows Medikamenten. Wie auch immer, sie war nicht in der Verfassung, zu kämpfen oder zu fliehen – aber sie konnte sich verstecken.
Nur die Baustellenlampe, die Emily am nächsten war, leuchtete noch draußen auf dem Korridor. Der Rest des Flurs lag in undurchdringlicher Finsternis. Emily stolperte aus dem Zimmer und schlug den Weg ein, der von den zerstörten Lampen wegführte. In dieser Richtung war der Flur ebenfalls dunkel, aber das war ihr nur recht: Schließlich konnte sie sich in der Dunkelheit genauso leicht verstecken wie der Killer.
Sie hatte erst ein kurzes Stück zurückgelegt, als auch die letzte Baustellenlampe erlosch.
Emilys Knie drohten nachzugeben, doch sie stützte sich an der Wand ab und ging mit schleppenden Schritten weiter. Die Finsternis wirkte beinahe flüssig, als würde sie sich durch ein Meer aus Öl bewegen.
Emily hatte einen einfachen Plan: dem Flur so weit zu folgen, wie sie konnte, und sich im erstbesten Zimmer zu verstecken. Nur ihr Atem und das leise Geräusch ihrer Schritte waren zu vernehmen, als sie sich voranbewegte.
Unvermittelt blieb sie stehen. Hatte sie hinter sich etwas gehört?
Sie lauschte aufmerksam. Es war totenstill.
Zögernd ging sie weiter.
Und blieb wieder stehen, lauschte erneut.
Nichts.
Sie betete, dass das Geräusch nur in ihrer Einbildung existierte, doch sie hätte schwören können, dass hinter ihr Stoff geraschelt hatte. Und das Geräusch schien mit ihr Schritt zu halten.
Wieder überfiel sie Schwäche. Alles drehte sich um sie, und sie zitterte am ganzen Körper. Kalter Schweiß brach ihr aus.
Dennoch ging Emily weiter, bewegte sich mit so leisen, gemessenen Bewegungen, wie es ihr möglich war. Sie wechselte auf die andere Seite des Flurs und schob sich vor.
Ein bisschen weiter … nur noch ein kleines Stückchen …
Auf einmal spürte sie einen warmen Hauch im Nacken, aber das konnte nicht sein. Hier wehte kein Lüftchen.
Dann fiel ihr eine andere Erklärung ein.
Was sie da spürte, war der Atem des Killers.
Langsam drehte sie sich um, auf das Schlimmste gefasst …
Da war niemand, sonst hätte sie es gespürt.
Sie atmete auf und schob den Gedanken an Ackerman beiseite. Der Killer wäre hier genauso blind wie sie. Anders als andere glaubte Emily nicht, dass Ackerman übernatürliche Fähigkeiten besaß. Er war bloß ein Mensch mit verwirrtem Verstand. Im Dunkeln sehen konnte auch er nicht.
Emily dachte an die Nacht zurück, als Ackerman ihr Leben für immer verändert hatte. Es schien sehr lange her zu sein, dabei lag es erst ein paar Tage zurück. Emily erinnerte sich vor allem an Ackermans Augen. Damals hatte sie den Ausdruck in diesen Augen für nackten Wahnsinn oder Zorn gehalten, doch wenn sie nun daran zurückdachte, glaubte sie, auch Schmerz und Hoffnungslosigkeit in seinem Blick gesehen zu haben.
Nach dem Vorfall hatte sie sich näher mit dem Serienmörder befasst, dem ihr Mann zum Opfer gefallen war. Sie hatte von Ackermans Vergangenheit erfahren und das Bedürfnis empfunden, ihn zu begreifen, falls das überhaupt möglich war.
Wieder spürte sie den warmen Hauch im Nacken, reagierte aber gar nicht mehr darauf. Da ist ja doch niemand , beruhigte sie sich.
Bis sie den Finger spürte, der sich an ihrem Hals entlang bis hinunter auf die Schulter bewegte.
Vor Entsetzen gelähmt, stand sie wie versteinert da. Dann löste sie sich aus der Erstarrung, schlug mit dem Arm nach hinten aus und versuchte, den Killer zu treffen. Ihr Unterarm traf einen Körper, doch Emily war viel zu schwach und wusste, dass sie keinen Schaden anrichtete.
In ihrer Verzweiflung rannte sie los, versuchte, in den dunklen Korridor zu flüchten, kam aber nur ein paar Schritte weit, dann stolperte sie und stürzte nach vorn zu Boden. Verzweifelt kroch sie weiter, suchte nach einem Versteck.
Sie stieß gegen etwas, bei dem es sich um einen Tisch zu handeln schien. Hatten die Arbeiter ihn benutzt? Aber es war kein Tisch. Eine Art Schrank? Nein, auch nicht. Emily ertastete Rollen. Was immer es war, es
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