Ich bin die Nacht
Tür vor der Nase zu und verriegelte sie.
»Charlie!«, rief Marcus verzweifelt und rüttelte am Türknauf. »Mach auf!«
Über die Schulter sah er nach Loren und Amy. Sie alle hatten schon zu viel Zeit verloren, und die Flucht mit dem Wagen war ihre einzige Chance. Sie mussten rasch fort, aber er konnte Charlie nicht allein zurücklassen. Marcus blieb nur eine Möglichkeit.
Er wandte sich wieder den Frauen zu. »Loren, nehmen Sie Ihre Tochter und fahren Sie los. Ich hole Charlie aus dem Haus, dann kommen wir nach und stoßen zu Ihnen.«
Loren schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, wir fahren alle zusammen.«
»Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Jetzt fahren Sie schon!«
Doch Loren blieb beharrlich. »Wir fahren alle oder keiner.«
»Fahren Sie los, Lauren! Charlie und ich kommen auf einem anderen Weg heraus.«
Tränen strömten ihr über die Wangen. »Retten Sie meinen Sohn, Marcus«, sagte sie. Dann nahm sie ihre Tochter beim Arm und stieg in den Wagen.
Marcus wandte sich wieder der Tür zu. Als er aus dem Haus den Schuss eine Schrotflinte hörte, zuckte er zusammen. O Gott, hoffentlich ist es nicht zu spät.
Er trat gegen die Tür. Sie flog nach innen. Holzsplitter wirbelten durch die Luft. Marcus schlug alle Vorsicht in den Wind, er wollte nur noch Charlie finden. Er eilte durchs Haus, die Waffe schussbereit, und warf einen Blick in die Zimmer. Von Charlie keine Spur.
Blieb nur noch das Wohnzimmer. Marcus stürmte hinein.
Und blieb abrupt stehen.
Der Sheriff hatte Charlie einen Arm um den Hals gelegt und drückte ihm eine Pistole gegen die Schläfe. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, ließ erkennen, dass er genau wusste, wer der Herr der Lage war.
»Lassen Sie die Waffe fallen, Marcus«, sagte er. »Ihr Spiel ist aus.«
32.
Der staubige grüne Chevy El Camino bog auf den Parkplatz der Raststätte ein. Ein Schild an der Interstate verriet, dass es noch dreizehn Meilen bis Asherton waren.
Er musste ein paar Entscheidungen treffen. Mehrere Wege taten sich vor ihm auf, und er war unschlüssig, welchen er einschlagen sollte. Widersprüchliche Gedanken und Gefühle wirbelten ihm durch den Kopf – Wut, Hoffnung, Schmerz. Er brauchte Anleitung, und die konnte er nur von einem einzigen Menschen bekommen.
Er nahm den Hörer des Münzfernsprechers ab, warf Geld ein und wählte.
Father Joseph meldete sich.
»Ich habe sie laufen lassen«, sagte Ackerman.
Der Mann am anderen Ende der Leitung schwieg.
»Haben Sie gehört, Father? Ich habe sie gehen lassen. Die Mutter und die beiden Kinder. Ich habe sie verschont.«
»Wenn du die Wahrheit sagst, wäre ich sehr stolz auf dich«, sagte Father Joseph, doch in seiner Stimme schwang Skepsis mit. »Das könnte der erste Schritt gewesen sein.«
»Könnte, ja. Aber übertreiben wir es nicht. Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht.«
»Und worüber genau?«
Ein Lastwagenfahrer stellte sich hinter Ackerman. Offenbar wollte auch er das Telefon benutzen. Der Trucker hielt Abstand und lehnte sich an den Kofferraum eines Autos. Ackerman bedachte ihn mit einem kurzen Blick und senkte die Stimme, eher er weitersprach. »Über Gut und Böse, Father. Darüber, dass alles ein Gegenstück hat und dass alle Dinge aus gutem Grund geschehen. Wissen Sie, ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich vielleicht zum Bösewicht geboren bin.«
»Francis, das ist nicht …«
»Lassen Sie mich ausreden. Wenn etwas aus einem Grund geschieht, dann hat alles, was ich durchgemacht habe, einem bestimmten Zweck gedient. Ich will herausfinden, worin dieser Zweck besteht. Wenn ich der Wolf bin, muss es auch einen Hirten geben, nicht wahr? Ich habe erkannt, dass ich in gewisser Weise schon seit langer Zeit nach meinem Gegenstück suche. Bisher dachte ich, es handelt sich dabei um jemand, der das Spiel interessanter macht, aber jetzt glaube ich, dass ich auf der Suche nach meiner anderen Hälfte bin …«
»Kommst du mal zum Ende, Kumpel?«, fragte der Trucker.
In Ackerman stieg Wut auf. Er krampfte die Hand so fest um den Telefonhörer, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Warte, bis du dran bist … Kumpel «, sagte er über die Schulter, wandte dem Trucker wieder den Rücken zu und sprach weiter. »Heute Abend habe ich einen Mann namens Marcus kennengelernt. Er hatte etwas an sich, das ich nicht beschreiben kann. Jedenfalls, er kam mir merkwürdig vertraut vor, so als wäre ich nach Hause gekommen, als würde ich ihn schon mein Leben lang kennen. Aber als
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